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Der Heimatdichter wider Willen als Anwalt schwacher Söhne: Thomas Bernhard, aufgenommen 1971 in Salzburg.

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Auf den Tag genau 30 Jahre nach seinem Tod ist Thomas Bernhards Triumph nicht zu steigern. Die österreichische Bevölkerung hat den widerspenstigen Autor allem Anschein nach mit überschießendem Wohlwollen ins Herz geschlossen.

Selbst notorische Nichtleser verfallen heute in genießerisches Lippenlecken, wenn sie auf die Polemiken des als "Übertreibungskünstler" Gerühmten zu sprechen kommen. Das Muster ist altbekannt. Als Rechthaber taugen am allermeisten die Toten. Ihr Widerspruch ist verjährt und erstreckt sich dadurch kaum noch auf die Nachgeborenen.

Bernhard (1931–1989) verstand es, privat, in Ohlsdorf (OÖ) und Umgebung, auf landadelige Weise zu leben, privilegiert und dennoch frei von lästigen Verpflichtungen gegenüber der Gesellschaft. Das hinderte ihn keineswegs daran, sich von der Engstirnigkeit seiner "geistfeindlichen" Heimat abgestoßen zu fühlen und gegen manche ihrer Erscheinungsformen zu opponieren.

Posthume Inbesitznahme

Den Mächtigen aller Couleurs sagte es dieser beredte Querulant bei jeder (un)passenden Gelegenheit hinein. So behauptet es zumindest die Fama. Sie hält dem Verstorbenen den nachträglichen Kitzel seiner Skandale (wie den rund um die Heldenplatz-Uraufführung 1988) ausdrücklich zugute. Man könnte eine solche Haltung der posthumen Inbesitznahme auch gönnerhaft nennen.

"Zuerst dieser gemeine und niedrige Nationalsozialismus und dann dieser gemeine und niedrige und verbrecherische Pseudosozialismus ...". Solchen Tiraden begegnet man bei Bernhard ohne Unterlass, und nicht immer lässt sich behaupten, ihr Urheber habe sich bei ihnen stets auf der Höhe seiner analytischen Möglichkeiten befunden. Tatsächlich fließen Polemiken wie die zitierte aus Sprachrohren. Als Schmähreden gleichen sie Entladungen, die dem Seelenheil dienen, das keineswegs mit Bernhards persönlichem identisch sein muss. Eher kennzeichnet solches Schimpfen die Exzentrizität von Figuren, die sich über tausende Prosaseiten hinweg als untröstlich Leidende zu erkennen geben.

Sprösse alpiner Schlossbesitzer

Vom Romandebüt Frost (1963) an stolpern solche von der Aussicht auf ihr ungewolltes Erbe Geschwächte durch Klimazonen einer widrigen Natur. Ihre Heimat ist ihnen Feindesland. Es besteht aus Oberösterreich und Salzburg. Die Sprösse alpiner Schlossbesitzer dürfen sich auf die Übernahme umfangreicher Liegenschaften (unter ihnen viele phallische "Türme") gefasst machen. Bernhards Prosahelden sind als Söhne schwacher Väter und "böser" Mütter häufig passiv. (Schwestern notieren unter ferner liefen.) Söhne gehören durch das Vorrecht ihrer Geburt einer Sphäre an, in der das zugefügte Unrecht von 1938 bis 1945 und darüber hinaus unter keinen Umständen zur Sprache kommen darf.

Wenn doch, dann nur in allgemeinsten Wendungen. Vom Stammkapital des gigantischen Werks, das Thomas Bernhard hinterlassen hat, gefällt heute, was sich in möglichst kleiner Münze ausbezahlen lässt. So droht der keineswegs nur nachtfinstere Kontinent von Bernhards Prosawerk in Vergessenheit zu geraten.

Fürst Saurau

Immer schwerer zu entziffern sind die Konstellationen in Bernhards Büchern. Um nur von der verschlungenen Syntax zu schweigen. Kaum mehr vorstellbar scheinen Schlösser wie Hochgobernitz in Verstörung (1967), in dem ein Fürst Saurau ins Land hinausschaut und über 4000 Hektar Grund gebietet. Es scheint ungewiss, ob die waldreichen Landschaften nicht bloß seelische Problemzonen beschreiben.

Ein Ausdruck vergangener Epochen ist auch das zugrunde gelegte Familienbild. Totalitäre Sippen treiben in ihm den Zusammenhalt bis zum Inzest. Wer sich als unfähig erweist, das nötigende Erbe anzutreten, macht sich lieber aus dem Staub, geht nach Cambridge, Afrika oder, ganz zuletzt in der monumentalen Auslöschung (1986), nach Rom. Der Held des finalen Romans, Murau, kommt zwar nicht mit dem Leben, dafür aber ohne Schrecken davon.

Drückende Erbschaften

Es gibt "Weggeher" wie die Brüder Zoiss in Ungenach (1968). Es finden sich Nesthocker, die sich unter dem Druck der Verhältnisse in Geistesmenschen verwandeln und sich der Niederschrift von Studien widmen. Erbschaften, die als drückend empfunden werden, entledigen sich die Begünstigten durch Abschenkung. Bei der Aufteilung in Einzelparzellen darf auch blinder Zufall walten.

Jene Alpenrepublik, die wir von und durch Thomas Bernhard kennengelernt haben, ist ein Land, das permanent vor die Hunde geht. Die Krisengeschichte seiner eigenen familiären Herkunft hat Bernhard, der illegitime "Erbe" Österreichs, dazu genützt, seiner Heimat in seinem imposanten Werk den Prozess zu machen.

Es gehört zu den erheiternden Aspekten, dass ihm die damaligen Zielscheiben der Kritik heute überschwänglichen Dank wissen. Mit der sozialen Wirklichkeit in diesem Land haben Bernhards Bücher immer weniger zu schaffen. Doch vielleicht verhilft ihnen gerade dieser Umstand zu neuer Anteilnahme: Indem die Tagespolemik verstummt, verschafft sie dem existenziellen Schrei Gehör. (Ronald Pohl, 12.2.2019)