Eine Mutter ruht im Walde: Maren Eggert in Angela Schanelecs Bären-Kandidat "Ich war zuhause, aber".

Da waren es nur noch 16. Die Nachricht, dass der chinesische Wettbewerbsfilm Yi miao zhong (One Second) von Starregisseur Zhang Yimou nicht rechtzeitig fertig würde und deshalb nun doch nicht gezeigt werden kann, wurde lapidar per E-Mail kommuniziert.

Nun weiß man, dass der Film sich mit der chinesischen Kulturrevolution befasst, mit einem in dem Land tabuisierten Thema. Da kommt schnell Verdacht auf, es handle sich um Zensur – selbst bei einem renommierten Regisseur wie Zhang Yimou, der die Eröffnungsgala der Olympischen Spiele von 2008 inszenieren durfte.

Für das politische Selbstverständnis der Berlinale ist es jedenfalls kein gutes Zeichen, dass man so viel Raum für Spekulation lässt. Für den ohnehin kriselnden Wettbewerb ist es auch ein Verlust. Immerhin gab es dort zuletzt zwei Filme zu sehen, die mit einer äußerst persönlichen Handschrift operieren.

Ländliche Provinzen

Der Frankokanadier Denis Coté entwirft in Répertoire des villes disparues (Ghost Town Anthology) eine originelle Variation auf das Thema vom strukturellen Niedergang der ländlichen Provinzen. In trüben Bildern erzählt er, wie die Dorfbevölkerung von Irénée-les-Neiges durch den Selbstmord eines jungen Mannes in ihren Grundfesten erschüttert wird. Die Vereinsamung und Isolation der Menschen wird dann allerdings noch auf andere Weise manifest. Die Verstorbenen kehren wie schon in der Jelinek-Adaption Die Kinder der Toten wieder: Diesmal allerdings als starre, stumme Wiedergänger einer "Geisterstadt", die die Gefühlslage der Lebenden verdinglichen.

Noch anspielungsreicher war nur Ich war zuhause, aber. So heißt der neue Film der deutschen Regisseurin Angela Schanelec. Er beginnt mit Szenen aus der Tierwelt: einem Kaninchen, das von einem wilden Hund gejagt und dann vor den Augen eines Esels im Stall gefressen wird. Ein Bild dafür, dass man sich von seinen natürlichen Instinkten nicht abschotten kann? Hernach folgt glücklicherweise kein Drama wechselseitiger Attacken, sondern ein hochkonzentrierter Film über die Selbstzerfleischung der Menschen.

Schanelec hat bei der Pressekonferenz gesagt, sie wolle mit ihrem Film Brüche sichtbar machen. Das beschreibt auf treffende Weise eine Ästhetik, die dem Mainstream-Kino "der unsichtbaren Schnitte" in vieler Hinsicht entgegensteht. Meistens geht es in dem elliptisch gebauten Film um Situationen, in denen Menschen eine Verständigung, einen Austausch suchen, aber immer mehr mit Rücksicht auf die Hindernisse, die ihnen dabei im Wege stehen.

Maren Eggert spielt in der autobiografisch gefärbten Erzählung Astrid, die Mutter zweier Buben. Der Ältere der beiden war eine Zeitlang verschwunden, das hat Irritationen erzeugt. Doch der Film lässt die Welten neben einander stehen, sie überschneiden sich immer nur mittelbar. Schule (wo Kinder mit einer an Robert Bresson erinnernden Ernsthaftigkeit eine Hamlet-Inszenierung einstudieren), Arbeit und Liebe, die Sphären kommen nicht richtig zur Deckung. Unablässig stellt der Film die Selbstverständlichkeit infrage, mit der wir aufeinander reagieren.

Die Liebeswirren der Lehrer, Astrids wachsende Überforderung, die Formsuche eines Künstler – Ich war zuhause, aber baut aus szenischen Miniaturen ein Panorama, das auf bezwingende Weise vom Unbehaustsein seiner Protagonisten erzählt, ohne dass es ihm dabei an Humor ermangelt.

Fatale Liebe in "The Souvenir"

Um eine autofiktionale Erkundung geht es auch bei einer anderen wunderbar eigensinnigen Regisseurin, der Britin Joanna Hogg. The Souvenir hatte schon in Sundance Premiere, wo er als beste internationale Produktion ausgezeichnet wurde. Ähnlich wie Schanelec erzählt auch Hogg davon, wie schwierig es ist, dem Leben eine künstlerische Form zu geben, die dessen Verschränktheiten entspricht.

Sie setzt es jedoch im Stile eines "period piece" um, das in den frühen 1980er-Jahren in Sunderland spielt, dem proletarisch bestimmten Norden Englands. Die wohlbehütete Filmstudentin Julie (Honor Swinton-Byrne, Tochter von Tilda, die auch mitwirkt) stammt aus einem bürgerlichen Hause und kennt die Verluste des Lebens noch nicht. The Souvenir ist eine feinsinnige Erinnerung an eine fatal verlaufene erste Liebe, die einen Menschen erwachsen werden ließ. Den Film hätte man auch gern im Wettbewerb gesehen. (Dominik Kamalzadeh aus Berlin, 14.2.2019)