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Neben Persönlichkeitseigenschaften, Stimmungen und Gefühlen lassen sich im Gesicht auch Krankheiten ablesen.

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Gesichtserkennung ist überall. An Bahnhöfen, in Flughäfen, in Shopping-Malls. Airlines testen biometrische Boarding-Systeme, an denen das Gesicht die Bordkarte ersetzt. Und in einigen Geschäften in China können Kunden per Gesichtsscan zahlen. Auch Unternehmen setzen im Bewerbungsprozess auf Gesichtserkennung. Die US-Firma HireVue etwa hat eine Software entwickelt, die Unternehmen bei Job-Interviews assistiert.

Die Methode funktioniert so: Während der Kandidat von zu Hause aus in die Kamera seines Smartphones oder Laptops spricht, wird sein Gesicht von einem Computerprogramm gescreent. Ein maschinell lernender Algorithmus vermisst verschiedene Punkte im Gesicht, um aus den Mustern Gesichtsausdrücke abzuleiten, die Aufschluss über die Eignung des Bewerbers geben sollen. Ist der Kandidat motiviert? Lächelt er künstlich? Sind seine Augen weitaufgerissen? Sagt er die Wahrheit über seine Ausbildung? Setzt er ein Pokerface auf, um mögliche Lebenslauflücken zu überspielen? Der Traum vom Lügendetektor ist so alt wie die Menschheit, doch mit der Screening-Software soll er Wirklichkeit werden.

Gesichtsvermessung

Der Algorithmus soll bestimmte Mikroexpressionen aus dem Gesicht herauslesen, die dem Personaler verborgen bleiben. HireVue greift dabei auf die Emotionsmesstechnologie des Bostoner Start-ups Affectiva zurück, einem Spin-off des MIT, das aus einer Datenbank von mittlerweile über sechs Millionen Gesichtsaufnahmen verschiedene Metriken wie Zufriedenheit, Angst und Überraschtheit entwickelt hat. Neben Emotionen analysiert die Software auch Tonalität, Körpersprache, Wortwahl und Stimme.

Ein Job-Interview ist ein veritabler Datenschatz: Aus den bis 200 000 Datenpunkten, welche die HireVue’s Assessment-Lösung sammelt, errechnet das System einen Score, der den Erfolg des Bewerbers vorhersagt. Das Versprechen der Technologie ist, dass sie wertneutral operiert und alle Bewerber gleich behandelt. Der Algorithmus hat keine Launen, keine Vorurteile, er ist weder sexistisch noch rassistisch, heißt es – er urteile nur nach Ansehung der Daten. "In einem Meer von Kandidaten, die alle gleich aussehen – wo findet man die, die herausstechen?", fragt HireVue in einem Werbeclip. Der Bewerbungsprozess soll fairer und offener werden.

Das geht so schnell

Zu den Kunden von HireVue gehören unter anderen die Hotelkette Hilton, Goldman Sachs, IBM, BASF, Unilever sowie die Fluggesellschaften Qantas und Cathay Pacific. Letztere setzt bei der Rekrutierung von Flugbegleitern – pro Woche erreichen das Luftfahrtunternehmen allein in diesem Geschäftsbereich 300 Bewerbungen – auf die Software von HireVue. Der Bewerbungsprozess habe sich dadurch von drei Monaten auf zwei bis drei Wochen beschleunigt. Recruiterin Queenie Tsang wird auf der Webseite mit den Worten zitiert: "Früher mussten die Studenten Stunden in der Schlange stehen, um eine Chance auf ein fünfminütiges Interview zu bekommen. Heute bringen wir iPads auf Karrieremessen mit, und die Studenten müssen einfach nur zwei bis drei allgemeine Fragen beantworten."

Klingt simpel. Die Frage ist nur, wie reliabel und valide die Technologie ist. Misst sie das, was sie auch messen soll? Lassen sich die Messungen wiederholen? Der Informatik-Professor und Biometrie-Experte Anil J. Jain, der an der Michigan State University lehrt, ist skeptisch. Im Gespräch kritisiert er: "Weder der Hersteller der Software noch die Unternehmen, die dieses System einsetzen, geben quantitative Daten über die Reliabilität der Gesichtserkennungstechnologie während des Auswahlprozesses heraus." Es sei nicht einmal klar, wie man die Fehlerrate des Systems bewerte. "Wie werden sie Personen finden, die die Wahrheit sagen oder falsche Antworten geben, um die Fehlerrate dieses Vorhersagesystems zu berechnen?", fragt Jain.

Qualität der Daten

Dasselbe gelte für Emotionen. Es gebe eine ganze Reihe von Gesichtsausdrücken. Doch wie werden sie gewichtet? Welche Qualität haben die Daten? Die Validität der Gesichtserkennung hänge vor allem von der Qualität der Daten ab, so Jain. Je größer und diverser der Datensatz ist, mit dem die Algorithmen trainiert werden – Personen mit unterschiedlichem Alter, Geschlecht und unterschiedlicher Ethnie -, desto robuster sei die Software. Jedes System ist nur so gut wie seine Daten.

Garbage in, garbage out, heißt es in der Informatik: Wer Müll hinein wirft, bekommt auch Müll heraus. Wenn der Trainingssatz kein repräsentatives Abbild der Bevölkerung sei, würden die Ergebnisse verzerrt, das heißt, die Karrierechancen für eine bestimmte Gruppe, etwa weiße Männer, würden positiver bewertet. Informatik-Professor Jain befürchtet, dass Kandidaten aufgrund ihrer Herkunft oder ihres Geschlechts durch die Software diskriminiert werden könnten.

Biometrische Merkmale

Daneben gibt es datenschutzrechtliche Bedenken: Das Gesicht ist wie auch die Stimme ein einzigartiges biometrisches Merkmal, aus dem sich neben Persönlichkeitseigenschaften, Stimmungen und Gefühlen auch Krankheiten ablesen lassen. Will heißen: Man kann bestimmte schutzwürdige Informationen wie eine Schwangerschaft im Bewerbungsprozess durch das algorithmische Screening gar nicht mehr verbergen.

Unilever teilt auf Anfrage mit, dass das Unternehmen in Deutschland, Österreich und der Schweiz aus Datenschutzgründen keine Gesichtserkennung in der Personalauswahl einsetze. Doch in den USA gelten andere Datenschutzstandards – dort können Unternehmen weitaus mehr Daten abfragen.Die Frage ist, was die Technik alles sieht – und wie Firmen mit diesen Daten umgehen. Datenethik wird in der Unternehmenswelt immer wichtiger. Die Fragen müssen gestellt werden. (Adrian Lobe, 16.2.2019)