Viele Betroffene von Stalking wissen selbst lange nicht, was sie da erleben.

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Die letzte Nachricht hat Susanne* erst vergangene Woche bekommen. Es war eine lange Entschuldigung. Nicht die erste allerdings. Susanne wird seit 2015 von einem ehemaligen Freund gestalkt. Er hatte ihr gestanden, dass er in sie verliebt sei, woraufhin sie ihn abwies. Seither wechseln sich traurig-kitschige Liebesbekundungen und explizite sexualisierte Gewaltfantasien in ihrem Posteingang ab. Mehr als zwei Jahre lang schrieb er ihr im Wochentakt, mittlerweile kommen die Nachrichten "nur noch" monatlich. Bei der Polizei war Susanne nie. "Ich dachte, dass der Schaden für mich größer werden würde, wenn ich mich wehre. Also lernte ich, damit umzugehen", sagt sie. "Wenn eine Person, die einem einmal nahestand, so etwas tut, kann man nicht mehr abschätzen, wozu sie sonst noch fähig ist."

Die Polizei fand es amüsant

Alena* war bei der Polizei. Ein ihr unbekannter Mann hatte unter anderem Fake-Profile und Blogs mit echten Fotos von ihr angelegt, um über diese sexuelle Dienstleistungen in ihrem Namen anzubieten und Männer aufzufordern, mit ihr in Kontakt zu treten. Die PolizistInnen fanden ihre Situation mehr amüsant als gefährlich und legten ihr zwischen pornografischen Witzen nahe, sich von allen Social-Media-Plattformen abzumelden. Obwohl sie wusste, dass das klassisches Victim-Blaming und ihre Onlinepräsenz nicht das Problem waren, löschte sie ihre Profile wenig später aus Angst. Nachdem daraufhin eine Zeit lang nichts mehr passierte, meldete sie sich wieder an. Es dauerte nicht lange, bis sie anonyme Nachrichten bekam, in denen ihr Verhalten und ihre Umgebung beschrieben wurden. "Schon wieder draußen, lauf schnell weg, sonst fick ich dich", stand da zum Beispiel. Alena war kein zweites Mal bei der Polizei.

Nur ungern allein auf die Straße

Stalking ist in Österreich seit 1. Juli 2006 ein Straftatbestand. Unter beharrliche Verfolgung – wie das Delikt nach Paragraf 107a StGB vollständigerweise heißt – fällt das wiederholte Aufsuchen von räumlicher Nähe genauso wie der konstante Versuch der Kontaktaufnahme im Wege der Telekommunikation ("Cyberstalking") unter Verwendung sonstiger Kommunikationsmittel oder durch Dritte. Auch die Verwendung personenbezogener Daten gehört dazu. Jedenfalls muss die daraus resultierende Situation objektiv dazu geeignet sein, betroffene Personen in ihrer Lebensführung unzumutbar zu beeinträchtigen.

Das trifft auf beide Frauen zu. Alena musste bei Bewerbungsgesprächen potenzielle ArbeitgeberInnen immer gleich über ihre Situation aufklären, schließlich war es für sie undenkbar, mit Namen und Foto auf einer Website aufzuscheinen oder eine entsprechende E-Mail-Adresse zu haben. Ihre Jobsuche dauerte zwei Jahre. Susanne hat sich an die Nachrichten gewöhnt. Sie screenshottet sie und drückt sie danach sofort weg, ohne sie zu lesen. Sie geht jedoch nachts nur noch ungern allein auf die Straße, trägt keine Kopfhörer und schaut sich vor ihrer Eingangstür mehrmals um, ob sie nicht jemand beobachtet.

Erst nach einem Jahr hat sie erstmals über ihre Lage gesprochen, sie aber aus Scham selbst bagatellisiert. Wie viele Frauen, die von ihnen bekannten Personen gestalkt werden, versuchte auch Susanne zu Beginn, Verständnis aufzubringen. "Ich hatte Mitleid mit ihm. Ich redete mir ein, dass er halt gekränkt und enttäuscht ist, weil ich seine Gefühle verletzt habe", sagt sie. "Irgendwann hat er mir geschrieben, dass ich schön aussehe in meinem Mantel. Da wusste ich, dass er mich gesehen haben muss. Er hat mich dann auf allen möglichen Plattformen kontaktiert. Auf Instagram hat er bestimmt zehn verschiedene Identitäten erstellt, weil ich ihn immer wieder blockiert habe."

86 Prozent der Betroffenen sind Frauen

Stalking hat wie jede andere Form der Gewalt im sozialen Nahraum eine unverkennbare geschlechtsspezifische Komponente. Einer EU-weiten Studie zufolge ist jede fünfte Frau mindestens einmal in ihrem Leben davon betroffen. Eine Untersuchung der Universität Wien kommt außerdem zu dem Ergebnis, dass 86 Prozent der Betroffenen Frauen und 81 Prozent der Täter Männer sind. Insgesamt kennen 70 Prozent der Betroffenen die TäterInnen. In 40 Prozent der Fälle sind es Ex-PartnerInnen, in 23 Prozent FreundInnen oder Bekannte, und in 13 Prozent sind es KollegInnen. Vergleichbare Untersuchungen in anderen Ländern kommen zu ähnlichen Ergebnissen.

Warum stalken Männer Frauen? Im Kontext von geschlechtsspezifischer Gewalt betrachtet, ist die Antwort eine sich nicht erst seit der MeToo-Bewegung stets wiederholende: Es geht um Macht. Es geht um Gewalt als Reaktion auf Ablehnung und Zurückweisung. Um das gewaltvolle Überschreiten von Grenzen und um männliches Anspruchsdenken. Das weiß auch Susanne, doch den Gedanken verdrängt sie. "Ich bin kein Mensch, der ständig vom Schlimmsten ausgeht, aber ich denke natürlich schon daran, was wäre, wenn er plötzlich beschließen würde, sich zu holen, was er glaubt, dass ihm zusteht", sagt sie.

Für Dina Nachbaur, Geschäftsführerin des Weißen Rings, zeigen sich auch im Umgang mit Stalking bekannte Muster aus der Diskussion zum Thema Gewalt gegen Frauen: "Viele Opfer, die den Täter kennen, glauben erst, dass sie sich falsch verhalten haben und mit so einer Reaktion rechnen mussten", sagt sie. "Oft ist es so, dass zu Beginn einvernehmlich geflirtet oder auch eine sexuelle Beziehung eingegangen wird, die das Opfer dann aber nicht weiterführen möchte." Zu diesem Reflex, die Schuld erst bei sich zu suchen, trage auch die Polizei bei, wenn Betroffenen dieses anfängliche Einverständnis zum Vorwurf gemacht wird. Oder wie in Alenas Fall: ihre Präsenz auf Social Media.

Anzeigenbereitschaft sinkt

Gerade bei Cyberstalking sieht Nachbaur großen Aufholbedarf, was das Know-how der BeamtInnen angeht. "Es ist für die psychische Situation der Opfer noch einmal schlimm, wenn die Polizei überfordert ist und nicht weiß, wo sie überhaupt anfangen soll zu ermitteln. Sie fühlen sich ohnmächtig", sagt sie. Es gebe natürlich Spezialabteilungen bei der Polizei, doch diese haben selten etwas mit der Polizeiinspektion um die Ecke zu tun, an die sich Betroffene im Normalfall wenden. Alena wird ihre Erfahrungen mit der Polizei so schnell nicht vergessen. "Die Demütigung und die verzweifelte Erkenntnis, dass es keine Hilfe für mich gab, hat direkt danach zu einem nervlichen Zusammenbruch geführt. Ich habe bis heute panische Angst vor PolizistInnen und kein Vertrauen mehr in die Justiz", sagt sie.

Schlechte Erfahrungen mit PolizistInnen sind für viele Betroffene neben der Angst vor weiteren persönlichen Konsequenzen in Form von noch mehr Gewalt durch den Stalker nicht selten ein Grund, von einer Anzeige abzusehen. Viele fürchten sich außerdem vor einer Retraumatisierung durch das Ermittlungsverfahren, das am Ende ohnehin oft ins Leere führt, wie ein Blick auf die Zahlen zeigt. Die Anzahl der Anzeigen nach Paragraf 107a ist seit der Einführung des Straftatbestands über die Jahre gesunken. Laut polizeilicher Kriminalstatistik waren es im Jahr 2007 noch 2.601 Anzeigen, 2014 waren es 2.196 und im Jahr 2017 1.936 Anzeigen. Verurteilungen gab es in den entsprechenden Jahren 215 (wobei die gerichtliche Kriminalstatistik erst 2014 eingeführt wurde) 195 und 182. Hinzu kommen allerdings noch die diversionell erledigten Verfahren, die grob gerechnet noch einmal so viele ausmachen. Das sind insgesamt um die 15 Prozent der angezeigten Fälle.

Bei der Opferhilfe ansetzen

Die Diskrepanz zwischen Anzeigen und Verurteilungen ist also groß. Strafrechtsexpertin Lyane Sautner von der Johannes-Kepler-Universität Linz sieht ein ähnliches Problem wie im Bereich der Gewalt- und Sexualdelikte, wo sich die Beweiswürdigung häufig auf die Aussage des Opfers und des Angeklagten beschränkt, weil weder Sachbeweise noch Aussagen unbeteiligter Zeugen zur Verfügung stehen. Daher hält sie es für sinnvoll, bei der Opferhilfe anzusetzen. "Viele Opfer finden nicht zu den Unterstützungsangeboten. Sie müssten zudem eine effektive Möglichkeit haben, Verfahrenseinstellungen überprüfen zu lassen. Ihr Recht, einen Antrag auf Fortführung des Ermittlungsverfahrens zu stellen, wurde vor einigen Jahren beschränkt und ermöglicht seither nur mehr eine Missbrauchskontrolle. Das ist zu wenig", sagt Sautner.

Die Dunkelziffer ist wie bei allen Gewaltdelikten, die hauptsächlich von Männern an Frauen begangen werden, hoch. Der Verein Zara, der sich auch auf die Beratung von Betroffenen von Hass im Netz spezialisiert hat, meldet ein massives "Underreporting" bei Cyberstalking. Viele Betroffene wissen selbst lange nicht, dass das, was sie da erleben, nicht nur nicht okay, sondern auch strafrechtlich relevant ist. Doch wie kann das sein? Schließlich sind sich Opfer eines Diebstahls doch auch darüber im Klaren, dass sie Opfer eines Diebstahls wurden.

Romantisierung von Stalking

Gewalt gegen Frauen wird im Patriarchat nach wie vor tabuisiert und verharmlost. Bei Stalking kommt sogar noch eine gefährliche strukturelle Komponente dazu: die (mediale) Romantisierung. Man denke nur an den Song "Every Breath You Take" von The Police, der auf Hochzeiten gespielt wird, obwohl es darin um einen Mann geht, der "jeden Atemzug" und "jeden Schritt" einer Frau überwacht. Oder an die Hollywood-Romcoms "Verrückt nach Mary" und "Tatsächlich Liebe", in denen Stalking-ähnliches Verhalten von Männern als Verliebtsein verniedlicht und am Ende belohnt wird. Julia R. Lippman, eine Mitarbeiterin der University of Michigan, veröffentlichte 2015 eine Studie zum Thema. Sie untersuchte, wie die als romantisch dargestellte Verfolgung von weiblichen Charakteren durch männliche Charaktere in Romcoms das Bild der ZuschauerInnen von Stalking beeinflusst. Das Ergebnis überrascht nicht: Stalking-ähnliches Verhalten wird durch die Darstellungen normalisiert, was sich auch negativ auf die Position von Opfern auswirken kann, weil sie lernen, Stalking-ähnliches Verhalten als eine Form der männlichen Zuneigung hinzunehmen und nicht als Grenzüberschreitung zu verstehen.

Diametral ist das Verb "stalken" ganz selbstverständlich in der Alltagssprache verankert. Es wird verwendet, wenn man sich durch öffentliche Social-Media-Profile klickt, quasi mit "ansehen" gleichgesetzt. Eine so leichtfertige Verwendung des Begriffs erhöht die Gefahr der kollektiven Bagatellisierung. Alena ist in diesen Belangen besonders sensibilisiert. "Das Nadelöhr zwischen Verharmlosung und Victim-Blaming ist klein und die Sache zu ernst für sprachliche Inkorrektheit. Eine klare Definition ist nicht zuletzt für die Sensibilisierung der Gesellschaft, Polizei und Justiz wichtig", sagt sie.

Mit Stalkern arbeiten

Das Problem sitzt tief. Nachbaur ist überzeugt, dass sich die Situation für Betroffene nur durch Bewusstseinsbildung verbessern kann. Außerdem sei es das Wichtigste, dass sie wissen, an wen sie sich wenden können. "Je mehr Anzeigen es gibt, desto mehr Verurteilungen gibt es", ist sie überzeugt. Auch im Bereich der Täterarbeit muss ihrer Meinung nach etwas passieren. "Ich glaube, dass man mit Stalkern arbeiten kann. Das hat wie so vieles mit Impulskontrolle zu tun. Die kann man mit professioneller Hilfe trainieren", sagt sie. Das Problem lautet für sie wie für so gut wie alle anderen ExpertInnen nicht zuletzt: toxische Männlichkeit. (Nicole Schöndorfer, 21.2.2019)