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"Die Ingredienzien, die Kristyna-Oma zur Herstellung ihrer Rauchwaren benötigte, baute sie direkt in ihrem Garten an."

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Großmutters Haus lag mitten im Wald. Gleich einer einsamen Wolke am weiten Himmel. Die Wiese ums Haus war aufgerissen von den Hauern der Wildschweine, der Komposthaufen durchzogen von den Gängen der Wühlmäuse und der Hochstand am Rand der Lichtung vermorschte, seit Großmutter ihn eigenhändig umgesägt hatte. Der Jäger mit seinem Geballere war ihr auf die Nerven gegangen.

Das Forsthaus, an dessen sonniger Vorderseite ein Kräuter- und Blumengarten angelegt war, gehörte nicht ihr. Doch Großmutter residierte geradezu kunstvoll darin und verfuhr mit dem Grafen, dem es gehörte, zuweilen hemdsärmelig, zuweilen damenhaft keck und jedenfalls in einer Art, als könnte der Graf von Glück reden, dass es ihm überhaupt gestattet war, sie zu besuchen ab und zu. Großmutter war vielseitig und wandlungsfähig. Wenn sie von einem ihrer Rundgänge aus dem Wald heimkehrte, dreckverschmiert und in geflicktem Zeug, wirkte sie mitunter wie eine Hexe, deren undurchsichtiger Blick es ratsam erscheinen ließ, ihr auszuweichen. Am selben Nachmittag jedoch konnte sie im eleganten Kleid auf der Veranda erscheinen, mit makelloser Frisur, einnehmendem Augenaufschlag und Lippen, so tiefrot wie Kirschen an einem vielversprechenden Sommerabend.

Mir schien, Großmutter tat nicht nur stets, wonach ihr der Sinn stand, sie entschied auch in jedem Augenblick, wer sie sein wollte. Als besäße das Gestern keinerlei Besitzansprüche an sie. Als wäre sie an nichts gebunden, weder an ihr Alter noch an ihr Geschlecht, weder an ihre Zukunft noch an ihre Herkunft, ja als wären selbst die Naturgesetze nur dazu da, dass Großmutter mit ihnen umsprang, wie es ihr gefiel. Sie würde, sagten jene, die sie kannten, selbst dem Teufel ihren Willen aufzwingen, wäre er so verrückt, sich ihr in den Weg zu stellen. Tatsächlich steckte sie voller Rätsel. Und sie hatte auch handfeste Geheimnisse, wie sich während jener Sommertage herausstellte, die wir gemeinsam bei ihr im Forsthaus verbrachten. Seit meiner Kindheit hatte ich sie nicht mehr zu Gesicht bekommen. Die Eltern belogen uns schlichtweg: Großmutter sei vor Langem schon gestorben, sagten sie. Wo ihr Grab sei? Keine Ahnung, niemand wisse, wo sie sich zuletzt herumgetrieben habe. Einmal hieß es, wenn ich mich richtig erinnere, dass sie Schande über die Familie gebracht habe. Doch selbst das stritten die Eltern später ab. Fragen nach ihr wurden allesamt im Keim erstickt. Als wäre schon der Gedanke an Großmutter verwerflich.

Das Totschweigen wirkte. Mit den Jahren verschwand Großmutter aus unserer Wahrnehmung. Und vermutlich wäre es dabei geblieben. Doch dann, an einem regnerischen Tag Anfang Juli, läutete es an der Tür und der Postbote übergab mir ein beinahe telefonbuchgroßes Paket. Von außen betrachtet sah es vollkommen unscheinbar aus. (...)

Ich war auf dem Land aufgewachsen, in der Einschicht, wie man bei uns sagte, und hatte die erstbeste Gelegenheit genutzt, um in die Stadt zu flüchten. Ich versprach mir ein freieres Leben, hoffte, weniger unter Beobachtung zu stehen. Abends arbeitete ich als Kellnerin in einem Studentenlokal, tagsüber als unbezahlte Aushilfe in einer Bücherei.

Schon als Kind war es so, Höhe und Halt suchte ich in Büchern. Ihre Protagonisten schenkten mir eine Stimme, was heißt eine Stimme, einen mächtigen, stimmgewaltigen Chor, den ich zuvor immer nur leise in mir geahnt hatte. Zudem legten all die Bücher Seiten an mir offen, die mir zuzugestehen ich ohne sie nie gewagt hätte. Das Mittelmaß, das in meiner Kindheit und Jugend ringsum zur alles normierenden Selbstverständlichkeit erhoben worden war, erschien mir mit jedem gelesenen Wort, jeder erlebten Zeile enger, sonderbarer, ja unfassbar albern.

Zwischen Buchdeckeln war die Welt weiter. Der Zauber begann zumeist unmittelbar nach dem Eintritt. Ideen fluteten mich und ich ging mir verloren in ihnen. Sah überrascht auf, entdeckte mich verwandelt wieder. Keine gänzlich andere als gerade eben war ich, aber eine größere, reichere.

Oft war es das stille Geheimnis eines Textes, das mich umfing; oft der Inhalt, der Tonfall, die Melodie, im besten Fall das aus alldem erwachsende Ganze. Es flüsterte sich in meinen Kopf, stürzte in mein Herz. Das setzte aus, staunte und schlug fortan in einem feineren Takt. All die Bücher machten mich stärker und sie machten mich verletzlicher, taten mir gut und taten mir weh, gaben mir Kraft und rissen mich in Abgründe, in die zu sehen mir zuvor nicht eingefallen wäre. (...)

Ich war im Bademantel, als der Postbote das Paket brachte. Darauf waren, akkurat mit Bleistift hingedrückt, mein Name und meine Adresse zu lesen. Ich betastete das mit Klebeband umwickelte Bündel und fühlte: Bücher waren es nicht. Ich kratzte am Umschlagpapier, riss es an einer Falzstelle auf. Da brach die Spannung des Pakets und massenhaft quollen Geldscheine heraus. Zwanziger-, Fünfziger- und Hunderter-Noten! Sie fielen zu Boden, ich sank auf die Knie.

Riss – nach einer Schrecksekunde – nochmals am Packpapier. Fetzte es entzwei. Eine Welle Geld ergoss sich über meine Oberschenkel. Ich erschrak! Freute mich! Erschrak abermals, kam ins Nachdenken. Geld! So wahnsinnig viel Geld!

Unter all den Banknoten schließlich eine handgeschriebene Nachricht auf einem kleinen Stück grauen Karton: Anbei ein paar Zetteln mit Nullen drauf. Nicht der Rede wert. Es grüßt dich deine Großmutter Kristyna. (...)

Horrortrips? Ach was!

Die Ingredienzien, die Kristyna-Oma zur Herstellung ihrer Rauchwaren benötigte, baute sie direkt in ihrem Garten an. Offen und für Laien doch verborgen wuchsen neben harmlosen Mauerblümchen, zwischen Schnittlauch, Sellerie und Maggikraut Gewächse, die es in sich hatten. Stechapfel etwa, der die Sinne erweitere, wie Kristyna versprach, und der zu "kaum bewältigbaren Halluzinationen" führen konnte, wie Wikipedia aufklärte, zu Horrortrips, die aufgrund der hohen Toxizität nicht selten tödlich endeten. Beim Gebrauch des Krautes, erfuhr ich, könne man sich schon einmal auf "Vergiftungssymptome" einstellen, auf "rasenden Puls, Hautrötung, Pupillenerweiterung, Muskelzuckungen, Unruhe, Schluck- und Sprechstörungen, Verwirrtheit, Seh- und Gleichgewichtsstörungen, Herzrhythmusstörungen, Bewusstlosigkeit".

"Ach was", sagte Kristyna. (...)

Anderes aus ihrem Gärtlein verhieß zumindest seinem Namen nach Milde. Aztekensalbei beispielsweise. Ein Blick in einschlägige Internetforen aber reichte, um zu erfahren, was einem beim Konsum des Salbeis der Azteken blühte. (...) (Thomas Sauter, Album, 16.2.2019)