Ein verkorkster Held, der Israeli Yoav (Tom Mercier), landet in "Synonymes" wie ein Alien in Paris: nackt und ohne einen Cent.
Foto: Berlinale

Schlechte Nachrichten fürs Kino

Die 69. Berlinale begann mit der schlechten Nachricht, dass deutsche Kinos im Jahr 2018 einen Besucherschwund von 17 Prozent hinnehmen mussten (in Österreich sind es rund zehn Prozent). Das Magazin Titanic titelte seinen Betrag daraufhin: "Wie tot ist das Kino?" Als Satire über den Kampf der "Erben Leni Riefenstahls" gemeint, traf einiges darin durchaus die Stimmung.

Die Debatte über den Strukturwandel im Distributionsbereich begleitete das Festival wie ein Raunen. Die AG Kino-Gilde präsentierte eine Unterschriftenliste gegen die Aufnahme der Netflix-Produktion Elisa y Marcela in den Wettbewerb. Der Film habe in Spanien einen Kinostart und würde deshalb nicht gegen Regularien verstoßen, antwortete der scheidende Direktor Dieter Kosslick. Er sprach sich auch für eine gemeinsame Position im Umgang mit Filmen von Streamingdiensten aus.

Davon ist man jedoch weit entfernt: Die Konkurrenz zwischen den A-Festivals scheint zu groß. Man darf gespannt sein, ob Cannes den harten Kurs gegen Netflix und Co fortsetzen wird. Für die Berlinale werden Kosslicks Nachfolger Carlo Chatrian und Mariette Rissenbeek nächstes Jahr neu abwägen müssen.

Wenig Unverwechselbares im Wettbewerb

Der Wettbewerb hatte nur wenige Filme mit einer unverwechselbaren Handschrift zu bieten. Die beiden herausragendsten verbindet, dass sie um Fragen krisenhafter Selbstbestimmungen kreisen. Der Newcomer Tom Mercier begeistert im Film des Israelis Nadav Lapid als eine Art Alter Ego des Regisseurs: Yoav landet wie ein Alien in Paris – nackt und ohne eine Cent, aber mit festem Willen, Israel ein für allemal hinter sich zu lassen. Also kein Hebräisch mehr, nur noch Französisch. Pausenlos spricht der verkorkste Held Vokabeln vor sich her: Synonymes – so heißt der Film. Er ist eine Satire auf unsere Zeit: Identität, kulturelle Prägung, Staatsgewalt.

All das empfindet Yoav als Belastung, kann dem aber nicht entkommen. Konfrontativ, mit abrupten Tonwechseln und reich an absurden Manövern erzählt Lapid vom vergeblichen Versuch, sich selbst neu zu erfinden.

Der beglückendste Film war Angela Schanelecs Ich war zuhause, aber: Eine Mutter und ihre Kinder, die Lehrer, einige Figuren, die sie streifen. Und die Frage, was es bedeutet, einen Lebensraum zu teilen. Was uns verbindet, was uns trennt. Ein Film, mysteriös wie das Leben, wenn man es schafft, dieses von außen zu betrachten: entfremdet, entrückt, komisch.

Tolle Arbeiten in der Forum-Sektion

Der Rückgriff aufs Archiv ist zentral für zwei Essayfilme der Forum-Sektion, die zu den besten Arbeiten des Festivals gehörten. Der deutsche Dokumentarist Thomas Heise begibt sich in Heimat ist ein Raum aus Zeit auf eine Odyssee durch die eigene Familiengeschichte, die ihn nicht nur in die DDR, sondern auch ins Wien der 1930er-Jahre führt.

Die intime Intensität des Films verdankt sich seiner Briefform; die Erzählung kommt aus dem Off, während die Bilder einen Echoraum aus einer anderen Zeit anbieten. In den Briefen werden fragmentarisch Lebenswege durch Unrechtsregime manifest. Von maßloser Traurigkeit ist jene lange Passage, in der die jüdischen Verwandten aus Wien an Heises Großeltern in Berlin schreiben. Zuerst das Staunen, dann die wachsende Angst. Auf der Bildebene zieht langsam das historische Dokument einer Liste von Wiener Juden durchs Bild.

Einen anderen Ansatz, um vom Persönlichen zum Politischen zu gelangen, wählt der Franzose Frank Beauvais in Ne croyet surtout pas que je hurle (Just Don’t Think I’ll Scream). Er berichtet von seinem persönlichen Krisenjahr 2015, das er in einem hinterwäldlerischen Dorf im Elsass verbrachte, während in Paris der Terror ausbrach. Die Bilder des Films stammen ausschließlich aus 600 Filmen, die Beauvais zu dieser Zeit rauschartig konsumiert hat.

Bemerkenswerte österreichische Beiträge

Gleich drei österreichische Berlinale-Beiträge konnten durch ihre eigenständige Ästhetik überzeugen. Derjenige, den man am ehesten mit Heimatbildern in Verbindung bringt, die Elfriede-Jelinek-Verfilmung Die Kinder der Toten, stammte vom Nature Theater of Oklahoma des US-Duos Kelly Copper und Pavol Liska. Die auf gespenstisch flickerndem Super-8-Film gedrehten Zombies wurden verdient mit dem Fipresci-Preis der Filmkritik gewürdigt.

Geyrhalterfilm

Erde, der jüngste Dokumentarfilm von Nikolaus Geyrhalter, zieht Kreise in globale Zusammenhänge. Er beschreibt den Planeten im Anthropozän, mithin die Umgestaltung der Welt durch Menschenhand. Erde kombiniert Geyrhalters bildgewaltige Aufnahmen von vernarbten Landschaften mit Gesprächen von Arbeitern und Technikern, immer auf Augenhöhe. Die Schnittmenge wirkt oft ironisch: Fast automatisch kommt man beim Reden ins Philosophieren. Nicht nur über die Unverantwortlichkeit der Menschen, auch über die Frage, was von all dem bleibt.

Rainer Kohlbergers It Has To Be Lived Once And Dreamed Twice gibt schon eine Antwort. Menschliches Leben, auch fast jedes materielle Bild ist darin entschwunden. Nur selten schälen sich aus den wabernden Bildern des Experimentalfilms (in Berlin im Kurzfilmwettbewerb) Gesichter heraus. Alles Leben ist in ein elektronisches Niemandsland eingesickert, zwischen Graugeriesel und Farbwellen, die akzentuiert von Peter Kutins Sound durchs Bild schwappen. Die Off-Computerstimme gehört einer künstlichen Intelligenz, die noch von Menschen erdacht wurde.

Neupositionierung in der Post-Kosslick-Ära

Einem Kritikerkollegen wurde von Dieter Kosslick am Spätzle stand nahe dem Berlinale-Palast ein Bärenanstecker überreicht. Ob es solche Gimmicks weiter direkt vom Chef geben wird, ist ungewiss. Eine inhaltliche Neuorientierung der Berlinale steht an, die dem Festival vor allem wieder künstlerisch klarere Konturen verleihen soll. Vor einigen Tagen wurde bekanntgegeben, dass sich Chatrian kuratorische Verstärkung durch sein ehemaliges Locarno-Team holt, u. a. ist der Kanadier Mark Peranson dabei.

Kleine Perle im Festival: "Fourteen" mit Tallie Medel.
Foto: Berlinale

Dass der Wettbewerb einer grundsätzlichen Neupositionierung bedarf, wurde gerade im letzten Kosslick-Jahr wieder deutlich. Neben Angela Schanelec und Nadav Lapid ist Fatih Akins Der goldene Handschuh immerhin mit Mut zur Hässlichkeit herausgestochen, auch François Ozon, Denis Coté, die deutsche Newcomerin Nora Fingscheidt fanden Fans. Dazwischen gibt es viel Spielraum für Neues. Oder für kleine Perlen wie Dan Stallits Fourteen, der lakonisch von zwei Freundinnen in Brooklyn erzählt und dabei fast unmerklich von einer Komödie zum schwermütigen Drama wird. (Dominik Kamalzadeh, 16. 2. 2019)