Lernstörungen in diagnostische Schubladen einzuteilen, ist Usus, aber unter Umständen nicht hilfreich. Software könnte kognitive Störungen schon bald besser erfassen als Experten.

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Wenn Forscher Kinder untersuchen wollen, die sich mit dem Lernstoff in der Schule schwertun, gehen sie meist ähnlich vor. Sie picken sich Heranwachsende heraus, denen man bereits eine bestimmte Lernschwierigkeit oder Verhaltensauffälligkeit diagnostiziert hat: eine Rechenschwäche, eine Lese-Rechtschreib-Schwäche oder ADHS.

Doch indem man Kinder in enge Diagnoseschubladen packt, wird man ihnen oft nicht gerecht. Über 80 Prozent der Kinder mit ADHS beispielsweise erfüllen die Kriterien für mindestens eine weitere Diagnose. Außerdem gleicht ein Kind mit ADHS selten einem Kind mit derselben Entwicklungsstörung – sie legen oft unterschiedliche Symptome an den Tag. Umgekehrt tauchen die gleichen Symptome in unterschiedlichen Gruppen auf: Probleme mit der Aufmerksamkeit etwa haben nicht nur Heranwachsende mit ADHS, sondern auch Kinder mit schlechter Lese- und Schreibfertigkeit oder miserablen Mathematikfertigkeiten.

Wissenschafter um Duncan Astle von der University of Cambridge haben daher in einer Studie im Fachblatt Developmental Science einen gänzlich anderen Weg eingeschlagen. Astle und seine Kollegen fütterten eine Software mit den Daten von insgesamt 530 Kindern, die an das Centre for Attention Learning and Memory der Universität verwiesen worden waren, weil sie Schwierigkeiten mit Sprache, Gedächtnis oder Aufmerksamkeit hatten – oder weil sie einfach in der Schule nur schwer vorankamen.

Erstaunliches Ergebnis

Die Teilnehmer hatten sich einer Reihe kognitiver Tests unterzogen. Getestet hatte man die phonologische Bewusstheit – die Fähigkeit, lautliche Strukturelemente der Sprache wahrzunehmen -, das Gedächtnis und die Fähigkeit, Probleme zu lösen. Außerdem hatte man die Lernfertigkeiten der Kleinen – Buchstabieren, Lesen – und Mathematikfertigkeiten auf die Probe gestellt. Indem sie Kinder mit einer großen Spannweite an Schwierigkeiten unabhängig von der Diagnose in ihre Studie aufnahmen, wollten die Forscher um Astle die ganze Spannweite an Problemen innerhalb und über diagnostische Schubladen hinweg erfassen. Zu diesem Zweck teilte die Software die Kinder in Gruppen mit unterschiedlichem kognitiven Profil ein.

Weder die Diagnose noch der Grund, warum die Kinder an das Centre for Attention Learning and Memory verwiesen worden waren, sagten die kognitiven Profile voraus, die die Software erstellte. Der Algorithmus kam insgesamt auf vier verschiedene Gruppen. In der ersten Gruppe fanden sich Kinder wieder, die breit gefächerte Defizite und Probleme beim Lesen, Buchstabieren und Rechnen hatten. Die zweite Gruppe umfasste Schüler mit kognitiven Profilen und Lernvermögen, die für ihr Alter durchaus typisch waren. Allerdings weisen Duncan Astle und seine Kollegen darauf hin, dass diese Gruppe durch Verhaltensschwierigkeiten auffiel, die ihre schulischen Probleme erklären könnten. Eine dritte Gruppe hatte Schwierigkeiten mit ihrem Arbeitsgedächtnis, ihnen fiel es also schwer, sich kurzzeitig Informationen zu merken. Und die vierte und letzte Gruppe hatte Probleme damit, die einzelne Laute in Wörtern zu verarbeiten.

"Grundsätzlich ist der Ansatz der Studie ganz spannend", sagt Karin Landerl von der Universität Graz. "Dass man an die Lernstörungen einmal nicht ausgehend von den Diagnosen, sondern rein datenbasiert herangeht." Doch im Detail sieht die Entwicklungspsychologin Probleme. So hätten die Forscher die Probanden ihrer Studie etwas zu breit ausgesucht. "Sie haben nicht nur Entwicklungsstörungen aufgenommen wie Dyslexie, die über bestimmte Testaufgaben und die sich daraus ergebenden kognitiven Profile diagnostiziert werden." Vielmehr berücksichtigten sie auch Störungen wie ADHS. Hier wird eine Diagnose nicht entsprechend dem Abschneiden bei bestimmten kognitiven Tests gestellt, sondern anhand bestimmter Verhaltensauffälligkeiten, die über Lehrer und Eltern eingeschätzt werden.

Grundsätzliche Defizite

Dass dann die Auswertung in der Studie auf ein sehr breites Spektrum an kognitiven Profilen stößt, überrascht die Entwicklungspsychologin nicht wirklich. Außerdem waren die gestellten kognitiven Aufgaben sehr beschränkt. Hauptsächlich hatte man bestimmte Gedächtnisleistungen abgeprüft. "Dabei ist beispielsweise bei der Rechenschwäche schon länger bekannt, dass die betroffenen Kinder schon Schwierigkeiten mit ganz grundsätzlichem Zahlenverständnis haben." Warum dieser Aspekt gar nicht erhoben wurde, ist für Karin Landerl nicht nachvollziehbar. Und das könnte auch erklären, warum die kognitiven Profile nicht wirklich die verschiedenen Diagnose-Gruppen widerspiegeln.

Denn die Kognitionspsychologie selbst geht von spezifischen Kernmechanismen aus, die bei bestimmten Lernstörungen typischerweise beeinträchtigt sind, etwa die Zahlenverarbeitung bei Rechenschwäche. Defizite im Arbeitsgedächtnis wie in der Studie sind hingegen nicht spezifisch für eine bestimmte, sondern kennzeichnend für alle Lernstörungen. "Daher ist es auch nicht wirklich überraschend, dass sich die analysierten Gruppen hier nicht dramatisch unterscheiden."

Überrascht hat Karin Landerl auch eine andere Erkenntnis der Studie nicht: Die Forscher um Duncan Astle fanden heraus, dass viele Kinder, denen die Verarbeitung von Lauten Probleme bereitete, nicht nur schlechter lesen, sondern auch schlechter rechnen konnten. Das sei nicht neu, so Landerl. "In unseren Studien mit über 2000 Kindern im Volksschulalter zeigte sich ebenfalls, dass Lese-Rechtschreib-Schwäche und Rechenschwäche oft kombiniert auftreten." Das sei in der Forschung unbestritten. "Warum aber nun manche Kinder nur in einem Bereich, andere in beiden Bereichen Schwierigkeiten haben, kann der Ansatz der Studie nicht erklären." (Christian Wolf, 19.2.2019)