Mittlerweile ist Stefan, der Mann in Orange, sogar auf den Geschmack gekommen. Obwohl er vor ein paar Wochen mehr als skeptisch war: Stefan ist eines der Masterminds des Weekly Longruns (WLR), also des wöchentlichen Free-of-Charge Gruppenlaufes, der jeden Sonntagmorgen von Michael Wernbachers We-Move-Laufshop in der Mall in Wien-Landstraße ausgeht und an dem mittlerweile regelmäßig 30 bis 40 Läuferinnen und Läufer in unterschiedlichen Tempogruppen teilnehmen.

Stefan ist im echten Leben Jurist. Und einer der korrektesten Menschen, die ich kenne: Als einer der anderen WLR-Guides bei der Routenplanung vor einigen Wochen vorschlug, rund um den Zentralfriedhof zu laufen, postete ich "Wieso nicht durch?" – und Stefan war dagegen: Laufen am Friedhof? Wie pietätlos ist das denn?

Foto: Stelvio Sanfilippo

Ich verstehe das. Voll und ganz. Als ich vor etlichen Jahren das erste Mal im Laufgewand vom Schloss Neugebäude kommend vor dem Tor zwei des Zentralfriedhofes stand, dachte ich mir das, was sich vor und nach mir schon viele dachten: dass die Wege und Alleen hier zwar schön, autolos, malerisch und – no na – "off the beaten tracks" sind, es aber wohl nicht lange dauern würde, bis sich mir ein Friedhofswärter in den Weg stellen würde. Ganz abgesehen von dem, was mir empörte Menschen, die hier die Gräber ihrer Verstorbenen besuchen, wohl nicht nachrufen oder nachwünschen würden.

Foto: thomas rottenberg

Nur: Ich lag falsch. Ganz falsch. Und um das nicht einfach zu behaupten, verlinke ich hier zum angeblich aktuellsten einschlägigen Text anderer Laufschreiber und -schreiberinnen, den mir Google ausspuckte: Bettina Neuhauser schrieb in der "Presse" vergangenen November über die Lauferei am Zentralfriedhof – und war über das ganz offizielle "Aber natürlich dürfen Sie am Zentralfriedhof laufen, wir freuen uns sogar darüber" der Friedhofsverwaltung ebenso erstaunt wie jeder andere – mich eingeschlossen –, der diese Frage je gestellt hatte.

Foto: thomas rottenberg

Hat man sich einmal von seiner Verwunderung gelöst, lässt sich in Sachen "lebendiger Friedhof" noch ganz anderes entdecken: Nicht nur die Filiale der Kurkonditorei Oberlaa, in der wahrlich nicht nur getrauert und geweint wird, sondern auch eine (de facto gratis) E-Bike-am-Friedhof-Initiative im Rahmen der Smart-City-Aktivitäten von Smarter Together, die vergangenes Frühjahr für regionale Furore sorgte: Ob es die E-Bikes zum Friedhoferkunden heuer wieder oder immer noch gibt, erschließt sich aus der Homepage nicht wirklich – und ich gebe offen zu, dass ich mich auch nicht wirklich weiter in die Materie vertief habe.

Foto: thomas rottenberg

Wer jetzt allerdings glaubt, dass die Stadt die Wiener Friedhöfe für jede Form von Entertainment oder Spaßhaben freigegeben hat, liegt falsch: Norbert Kettner, der Chef des Wien-Tourismus, erzählte mir im Herbst vom Plan eines Anbieters geführter Segway-Touren, am Zentralfriedhof Rundfahrten mit (geländegängigen?) Segways anzubieten. Geführt oder ungeführt? Gar nicht, sagte Kettner: "Sorry, aber irgendwo gibt es dann eine Grenze."

Und bevor jemand fragt: Auch die "Jagd am Zentralfriedhof" kann man nicht pachten.

Foto: thomas rottenberg

Es gibt hier Rehe. Fuchs und Hase sagen einander hier auch gerne Gute Nacht, aber den Grabstein eines Verstorbenen oder etwa die Erinnerungsstele für Opfer der NS-Justiz mit Schrot-Einschussspuren "dekoriert" vorzufinden fände wohl kaum jemand akzeptabel.

Aber als Urban Legend taucht die "Jagd am Friedhof" alle paar Jahre irgendwo auf – schließlich erinnern sich manche Leute ja tatsächlich dran. Doch weil zu viel Recherche noch die schönste Geschichte kaputtmachen kann, vergisst man dann halt zu erwähnen, dass die letzte Jagd am Zentralfriedhof 1987 stattgefunden hat.

Foto: thomas rottenberg

Aber zurück zum Weekly Longrun und den Friedhöfen: Vorletzten Sonntag war da – nach eingehenden Recherchen, ob das "You are welcome" denn auch wahr sei – die erste "echte" Friedhofsrunde angesagt, bei geradezu archetypischem Friedehoflaufwetter.

Da die WLR-Spielregeln und das Gepäck-im-Shop-Deponierenkönnen besagen, dass der Lauf in Wien-Landstraße beginnt (und endet), mussten wir erst mal nach Simmering kommen.

Und weil es mehr Wege nach Osten als die Prater- oder Donaukanalrouten gibt, ging es zunächst mal durchs Belvedere.

Foto: thomas rottenberg

Und dann, quasi als Kontrast, durch Wiens jüngstes Stadtviertel: Die Office-Region rund um den Hauptbahnhof kenne ich mittlerweile – aber ins neue Sonnwendviertel und seine Wohnbauverlängerung bis fast hinauf zur Ankerbrotfabrik hat es mich bisher noch nie verschlagen: Terra Inkognita – und bei Nebel so richtig entrisch.

Foto: thomas rottenberg

Den Böhmischen Prater kenne ich, ich stamme ja aus Favoriten. Dennoch war der "kleine Prater" am Hügel immer ein bisserl im toten Winkel meiner Abenteuer und Wahrnehmung – wohl auch, weil die Hauptachsen der Öffis ihn nicht wirklich berühren und ich den Weg nach Simmering (eine meiner ersten Schulliebschaften wohnte beim Schloss Neugebäude) mit dem Rad und dann mit dem Moped lieber über die flachen Feldwege als über den Hügel antrat.

Foto: thomas rottenberg

Dass der Böhmische Prater unter Wert geschlagen wird, hat und ist für mich also auch eine persönliche Geschichte – dass einige meiner Mitläuferinnen und Mitläufer aber überhaupt noch nie hier waren, überraschte mich dann doch. Ihre faszinierten Gesichter – auch angesichts der Geschichte des Areals und seiner Benutzer – waren aber Gold wert.

Foto: thomas rottenberg

Obwohl ich die Gegend kenne, war ich froh, dass Martin, der Guide unserer Gruppe an diesem Tag, die Route in seine Uhr eingespeichert hatte. Und auch Martin war – obwohl er sich die Karten genau angesehen hatte – für die kleinen Pfeile am Wecker dankbar: Dass man auf den kleinen Feldwegen vom Laaer Berg zum Bahnhof Kledering (zur Brücke über die Verschubgleise) tatsächlich die Orientierung verlieren kann, hätte ich nicht für möglich gehalten. Aber ich war auch noch nie bei Nebel vom Böhmischen Prater zum Zentralfriedhof gelaufen. Genau genommen: Diese Strecke war auch für mich ein First – und ich bin schon gespannt, wie sie sich anfühlt, wenn man etwas sieht. Vermutlich sogar spannender.

Foto: thomas rottenberg

Wir kamen von der Maschekseite, über eines der hinteren Tore. Einige in der Gruppe äußerten die gleichen Bedenken, die auch am Anfang dieses Textes stehen. Das spricht für jeden von ihnen. Aber als wir schon im Eingangsbereich die erste Nordic-Walking-Gruppe überholten, war die Scheu rasch abgelegt – und wich der Neugier: Der Zentralfriedhof ist für viele Wiener ein Mythos. Ein Ort aus Liedern, Sprichwörtern und Geschichten. Aber die Idee, ihn sich selbst zu erschließen, setzt dann doch kaum jemand in die Tat um – und auch wenn hier mit über vier Millionen "Einwohnern" Wiens "größter Gemeindebau" ist, hat längst nicht jeder hier Vorfahren oder Verwandte. Geschweige denn, dass er sie besucht.

Foto: thomas rottenberg

Was aber jeder weiß: Hier liegt Falco. Also: Nicht nur. Hier liegen zahllose Prominente. Aber nur das Grab von Hans Hölzl hat sich zum echten und regelmäßig überlaufenen Pilgerort entwickelt.

Ich war irgendwann einmal, vor etlichen Jahren, zu Falcos Todestag (am 6. Februar) hier: Da waren – im Wortsinn – hunderte Fans da. Etliche waren eigens aus Deutschland, Italien, Tschechien oder Dänemark angereist. Als wir vorletzten Sonntag, es war der 10. Februar, vorbeikamen, lagen da etliche Kränze und Souvenirs. Zwei Fans standen am Grab – und waren, gelinde gesagt, etwas irritiert, als wir daherkamen.

Foto: thomas rottenberg

So skurril wie das Grab von Jim Morrison in Paris geht es hier zwar nicht zu (dort las ich einst den schönen Spruch "Sauf aus, Jim, wir gehen"), auf einem der Nachbargrabsteine aber dafür schlägt Falcos Dreifaltigkeits-Dreifaltigkeit-Grabmal (Säule, Obelisk und das gläserne Segel) in puncto Geschmacklosigkeit ziemlich alles: Ronny "Don Ron" Seunig – ja genau, der Gründer der Excalibur City und der Mann hinter dem Rechtsrechtsausleger-Magazin "Alles roger" – hat es 1999 um 20.000 Euro errichten lassen: Tote können sich gegen Applaus von der falschen Seite noch weniger wehren als Lebende.

Foto: thomas rottenberg

Wobei man natürlich auch über den rosa Riesenpenis, der ein paar Abteilungen weiter hinter einer Hecke hervorlugt, geteilter Meinung sein kann: Der Grabstein für Franz West ist ganz gewiss ebenfalls nicht jedermanns Sache – schon gar nicht auf einem Friedhof, aber er passt zumindest zum Werk des hier Begrabenen. So wie die grazil-verspielte Struktur auf dem Grab von Hedy Lamarr (von der heute kaum jemand weiß, dass sie quasi die Mutter von Wifi, Bluetooth & GPS war) oder dem Marmorflügel über Udo Jürgens' Grab: Der ist zwar megakitschig – aber er passt.

Und: Jedes dieser Gräber ist die Reise zum und dann durch und über den Friedhof wert. Nicht nur laufend, aber eben auch.

Foto: thomas rottenberg

Gleich gegenüber vom Zentralfriedhof liegt der Tierfriedhof. Hier können seit 2011 Haustiere würdig (und vor allem legal) bestattet und besucht werden. Auf dem Areal liegen Hunde, Katzen, Meerschweinchen und Hasen. Vermutlich auch der eine oder andere Wellensittich und vielleicht ja sogar Schildkröten. Es gibt eine Wand mit Nischen für Urnen – und wenn man zwischen den Gräbern spaziert, fällt es mitunter schwer, sich nicht zu wundern: Dass ein Hund (oder doch eine Katze?) auf dem Grabstein einen Davidstern eingemeißelt bekommt, ist nur eine von vielen Seltsamkeiten.

Aber bei aller Skurrilität ist genau das nachvollziehbar: Hier geht es um Gefühle. Um Verlust dessen, was – oder wen – man liebt. Das gilt es zu akzeptieren und zu respektieren: Trauer ist nicht lächerlich. Nie.

Foto: thomas rottenberg

Nach dem Friedhof kommt Lower Simmering. Die Gegend zwischen Schloss Neugebäude, dem Gefängnis von Kaiserebersdorf bis hin zum Donaukanal kann nicht viel. Oder vielleicht ja doch – wenn man sich "ins Gemüse" stürzt. Also im Wortsinn. Schließlich liegen hier gleich hinter den Häusern etliche Gärtnereien: Als Jugendliche erforschten wir hier Land mitten in der Stadt. Ob das heute noch so ist? Keine Ahnung. Oder aber man biegt genau hier flussabwärts ab – Richtung Alberner Hafen und Friedhof der Namenlosen. Wunderschön, aber heute nicht mehr auf dem Plan.

Foto: thomas rottenberg

Wir trabten heim. Vom Kraftwerk flussaufwärts, das Donauufer entlang: Eine Standardstrecke, die auch und gerade bei Nebel ihren Reiz hat.

Auch weil wir auf diesem meditativen Schlussstück am Sonntag vor einer Woche dann genügend Zeit hatten zu planen. Etwa den nächsten Friedhofslauf: Der fand dann letzten Sonntag statt. Ohne mich, aber bei strahlendem Sonnenschein. Im Frühling. Über das (angebliche) Mozart-Grab am Friedhof St. Marx ging es zu den "Namenlosen" – ohne dass es jemanden störte. Weder die Lebenden noch die Toten. Aber diese Geschichte erzähle ich vielleicht ein anderes Mal: Wenn ich die Runde selbst gelaufen bin.

Die Strecke zum Nachlaufen gib es hier: Auf Garmin-Connect und Strava

(Thomas Rottenberg, 20.2.2019)

Foto: thomas rottenberg