Zwei Vertreter des indonesischen Künstlerkollektivs Ruangrupa, Farid Rakun (l) und Ade Darmawan, das die documenta 15 im Jahr 20122 kuratieren wird.

Ruangrupa besteht aus einem festen Kern aus zehn Künstlern. Es können aber noch mehr Mitglieder an dem Kollektiv beteiligt sein.

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"Der untere Teil der Documenta-Halle ist abgesperrt. Angeblich sollen dort ein Mann und eine Frau mit Baseball-Caps auf ihren Auftritt warten. Ist dies das Duo, das Kassel bis 2022 prägen wird?"

Der Liveticker der Kasseler Tageszeitung HNA zur Bekanntgabe der neuen Documenta-Leitung war höchst skurril. Und er irrte. Fast zwangsläufig. Denn dass nicht eine Einzelperson oder ein Duo, sondern eine ganze Gruppe, das zehnköpfige indonesische Künstlerkollektiv Ruangrupa, die 15. Ausgabe der Weltkunstschau leiten wird, ist eine Überraschung. Ebenso wie die zweite Novität: Alle Mitglieder der Findungskommission werden Ruangrupa als Beirat dabei begleiten.

"Wir wollen eine global ausgerichtete, kooperative und interdisziplinäre Kunst- und Kulturplattform schaffen, die über die 100 Tage der Documenta 15 hinaus wirksam bleibt", lautet die erste Ansage der nach Kassel delegierten Farid Rakun und Ade Darmawan von Ruangrupa. Obendrein wolle man mit Fußballklubs, Krankenhäusern und Schulen kooperieren. Offenbar gilt es, die lokale Bevölkerung zurück ins Boot zu holen. Nach dem Eklat um das Defizit bei der letzten Ausgabe (inzwischen 7,6 Millionen Euro) und der Debatte um den Obelisken ist "Documenta" ein Reizwort.

Kulturhauptstadt-Ersatzprogramm

Die Ansage zielt aber auch auf ein anderes Dilemma: Zwar richten sich alle fünf Jahre die Augen der Kunstwelt auf das hessische Provinzstädtchen, danach wird aus Kassel aber wieder "die einzige Stadt der DDR im Westen". Klingt also ein wenig nach Stadtteilmanagement und Ersatzprogramm für die Bewerbung zur europäischen Kulturhauptstadt 2025. Im Mai 2018 gab die Stadt bekannt, die Bewerbung nicht weiterzuverfolgen.

Weithin bekannt sind Ruangrupa nicht. Noch nicht. Die 2000 in Jakarta gegründete Initiative, deren Name mit "Raum der Kunst" übersetzt werden kann, könnte man als Katalysator für künstlerische Ideen begreifen. Ausstellungen, Festivals, Kunstlabore, Workshops und die Publikation von Zeitschriften gehören zu ihren Methoden. Das Ziel ist Partizipation. Der Besuch der Webseite ruangrupa.org endet bald bei der Meldung "under construction".

"Die Documenta kann nur überleben, wenn sie sich jedes Mal neu erfindet" , sagte Hortensia Völckers, Leiterin der Kulturstiftung des Bundes, bei der Pressekonferenz. So sieht also das Runderneuerte nun aus: 1. Das Künstlerkollektiv entmachtet die Herrschaft der Kuratoren. 2. Der globale Blick richtet sich auf lokale Strukturen und Verhältnisse.

Krisenmanagement und Neuerfindung

Warum tun Sie sich das an, hätte man einer neuen Kuratorenpersönlichkeit zurufen wollen: sich vom Oberbürgermeister und dem Aufsichtsrat nach dem Finanzdesaster künftig an die Kandare nehmen lassen? Die heikle Nachfolge des glücklosen Adam Szymczyk antreten, der von der Kritik wegen seiner die Moralkeule schwingenden, überpolitisierten Documenta 14 abgewatscht wurde? Die Documenta aus der Krise führen?

Vielleicht war bereits Szymczyk zum Scheitern verurteilt. Denn wie soll man dem pickengebliebenen Ruf von der international wichtigsten Großausstellung für Gegenwartskunst heute noch gerecht werden? Die Zeit, als das "Museum der 100 Tage" Deutungshoheit über das besaß, was Kunst ist, ist längst vorbei.

Die Documenta einst und jetzt

Im Gründungsjahr 1955 galt es noch, der Wiederaufbaugesellschaft mit Picasso, Matisse und Léger die Moderne vorzustellen, vieles von dem, was die Nazis als entartet verfolgt hatten. Die erzieherischen Anfänge ließen nach oben noch viel Platz, gaben nachfolgenden Documenta-Machern Raum zur Entwicklung: 1968 kam Pop- und Minimal Art dazu. 1972 kontrastierten Bilderwelten der Werbung und der Science-Fiction mit der Hochkunst. 1977 erweiterte man um Medien wie Fotografie, Film, Performance und eroberte den Stadtraum. Nach und nach verschafften sich politische Kunst und Diskurs Raum.

Größer und besucherreicher wurde man sowieso von einer Ausgabe zur nächsten. Die Documenta 14 erkor Athen schließlich zur Dependance: Man rühmte sich, die "meistbesuchte Ausstellung zeitgenössischer Kunst aller Zeiten" zu sein.

Antwort auf neugierige Blicke der in Kassel versammelten Presse: Farid Rakun (l) und Ade Darmawan vom Kollektiv Ruangrupa.
Foto: Imago

Was hätte dem Superlativ folgen sollen? Oder anders gefragt: Was kann die Documenta noch leisten? Die Möglichkeit zum Überblick ist im Internet heute permanent gegeben. Zudem ist der ästhetischen Erfahrung ein kleinerer Rahmen zuträglicher. Um nicht obsolet zu werden, muss Ruangrupa einen neuen "Weltbedeutungszauber" (Die Zeit) finden. Eine Aufgabe, die nun immerhin auf vielen Schultern ruht. (Anne Katrin Feßler, 22.2.2019)