"Wegen mehr oder weniger Medaillen bei Großereignissen ist unsere Gesellschaft noch nicht gesünder", sagt Felix Gottwald.

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STANDARD: Als nordischer Ex-Star sind Sie bei der Heim-WM noch nicht aufgetaucht. Warum?

Gottwald: Ich schätze mich glücklich, vielen anderen Aufgaben nachkommen zu dürfen. Die Zeit, die bleibt, widme ich gerne meiner Familie. Vielleicht geht sich am Donnerstag ein Besuch aus.

STANDARD: Wie nehmen Sie Ihren ehemaligen Sport, die Nordische Kombination, derzeit wahr?

Gottwald: Es ist sehr erfreulich, dass die österreichischen Athleten wieder an die absolute Weltspitze anschließen konnten. Generell hat sich die Nordische Kombination dahingehend entwickelt, dass die Athleten in puncto Körpergewicht wieder leichter geworden sind und es im Moment keinen gibt, der läuferisch dominiert. Über die Jahre und über Reglementierungen wechselt das in Wellenbewegungen, und gewinnen tun am Ende die Besten.

STANDARD: Sie waren schon unzufriedener mit der Entwicklung der österreichischen Kombinierer. Was hat sich verändert?

Gottwald: Wir haben mit Mario Seidl und Franz-Josef Rehrl zwei Athleten, die die Latte im Springen legen. Darüber hinaus wurde auch wieder vermehrt ins Langlauftraining investiert. Heute können wir auch am letzten Kilometer wieder aktiv ins Geschehen eingreifen. Dahingehend hat bestimmt auch Mario Stecher als Sportdirektor seine Erfahrungen eingebracht. Üben hilft eben immer.

STANDARD: Schauen Sie bei der Kombination auch einfach nur gerne zu?

Gottwald: Natürlich ist es spannender, wenn Österreicher vorne mit dabei sind. Das ist in Österreich aber auf jede Sportart zutreffend. Österreich hat ja, was den Sport betrifft, bestenfalls eine Fernseh-, aber keine Sportkultur.

STANDARD: Aber im nordischen Spitzensport ist Österreich da und dort dabei. Oder ist das zu wenig?

Gottwald: Die Ergebnisse im Spitzensport sagen wenig aus über die Sportkultur. Wegen mehr oder weniger Medaillen bei Großereignissen ist unsere Gesellschaft noch nicht gesünder. Unsere Sportnation anhand der Fettleibigkeit, der Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder der psychischen Erkrankungen zu beurteilen, das wäre mutig und notwendig.

STANDARD: Vor der Präsentation der Sport Strategie Austria durch Sportminister Heinz-Christian Strache wurden viele Experten aus dem Sport gehört und zum Teil auch eingebunden. Ist man auch an Sie herangetreten?

Gottwald: Ich hatte Termine mit dem Gesundheitsministerium und mit dem Sportminister. Ich habe viele Fragen gestellt und wenige Antworten erhalten. Nur weil dem Sport fünf Seiten im aktuellen Regierungsprogramm gewidmet wurden, heißt das nicht automatisch, dass davon etwas ins Leben kommt. Ich habe klar deponiert, dass mit mir zu rechnen ist, wenn Sport und Bewegung in Österreich zu einem nationalen Anliegen wird. Seither habe ich nichts mehr gehört nur vernommen, dass es etwas gibt, das sich Sportnation 4.0 nennt. Mit Verlaub: Das, was von 1.0 bis 3.0 passiert ist, ist an mir vorübergegangen.

STANDARD: Ist die Kritik nicht ein bisschen harsch? So viel Zeit hatte der neue Sportminister, der nebenbei Vizekanzler ist, ja noch nicht.

Gottwald: Immer und alles schönzureden ist nicht meine Art. Wer über den Tellerrand blickt, etwa in die Schweiz, nach Island, nach Kanada oder nach Norwegen, der weiß, dass nichts mehr neu erfunden werden muss. Es geht ums Tun, um Commitment und den Fokus. Solange wir den Fokus auf die 0,1 Prozent richten, die das Zeug zum Weltmeister haben, und nicht auf jene 99,9 Prozent der Gesellschaft, die ihre Welt zu meistern haben, so lange werden wir eine Schnitzel- und Spritzernation bleiben. Wenn Sport und Bewegung in unserer Gesellschaft so normal wird, wie Schnitzel gegessen und Bier und Wein getrunken wird, dann haben wir es geschafft. Meiner Auffassung nach sind unsere gesellschaftlichen Herausforderungen wie Bildung, Gesundheit, Integration und Migration nur mithilfe des Sports zu meistern. Eine Überschrift: "Mach den ersten Schritt" ist dafür wohl noch zu wenig. Unser Rauchergesetz hingegen zu viel des Guten.

STANDARD: Sind nicht Veranstaltungen wie diese Nordische WM notwendige Inspirationen?

Gottwald: Natürlich und gleichzeitig eine sehr einseitige Übertragung, von jenen Aspekten, die für den Zuschauer wirkliche Relevanz haben. Wir sind eh schon sehr gut im Ausbelasten bis zur totalen Erschöpfung. Was es bedeutet, richtig zu regenerieren, haben wir als Gesellschaft verlernt. Dass unsere Seriensieger allesamt auch Experten des Scheiterns sind, wird nicht erwähnt. "Schneller, höher, weiter" und das Mantra: "Mehr ist besser als weniger", dafür wird der Sport missbraucht. Wie Athleten sich ihre kindliche Begeisterung erhalten, im Team füreinander da sind, Täler überwinden, diese Aspekte bekommen wenig Sendeplatz. Dafür sind wir live dabei, wenn Menschen zu anderen Menschen einen Berg hinaufbrüllen als wären wir inmitten eines Krieges.

STANDARD: Ist das Zusehen nicht eine gute Anregung?

Gottwald: Stellt sich die Frage, für was? Der nächste Werbeblock gibt dem Zuseher die Antwort. Es ist ja symptomatisch für unser Land, dass wir die Politik gerne und häufig beim Zuschauen, wie andere Sport ausüben, sehen. Hingegen Menschen daran teilhaben zu lassen, dass Sport und Bewegung auch im Leben von Spitzenpolitikern eine wichtige Rolle spielen sollte, ja muss, so weit sind wir als Nation schlichtweg noch nicht. Wir sind alle Vorbilder – ob wir wollen oder nicht. Öfter Vorbild durch Vorleben von Brauchbarem zu sein, das wäre mal eine Strategie.

STANDARD: Speziell bei der WM in Seefeld fällt schmerzlich auf, dass ein Sport wie Langlauf in Österreich offenbar nicht die Breite hat, um eine Spitze zu bekommen. Warum fehlt es an Nachwuchs? Ist das nur ein Versagen der sportlichen Führung? Sportdirektor Markus Gandler hat sich zuletzt viel Asche aufs Haupt gestreut.

Gottwald: Das Nachwuchsproblem ist kein Einzelschicksal von Markus Gandler und dem Langlaufsport. Es gibt Nachwuchscamps im Langlauf mitinitiiert vom Norweger Trond Nystad, die sich großen Zulaufs erfreuen und sehr gut angenommen werden. Noch einmal: Sport und Bewegung spielt in unserer Gesellschaft (noch) keine Rolle. Ja, es gibt Keimzellen einzelner Vereine und Familien, die Sport leben und ein entsprechendes Umfeld schaffen. Solange Eltern und Großeltern ihren Kindern und Enkelkindern keine Bewegung mehr zutrauen, so lange degenerieren wir uns weiter. Vielleicht sind wir ja bald die Weltbesten unter den E-Sportlern.

STANDARD: Noch eine Nachwuchsfrage: Sowohl Österreichs Skiverbandspräsident Peter Schröcksnadel als auch Weltverbandspräsident Gian-Franco Kasper haben zuletzt vorsichtig angedeutet, dass sie sich bald einmal zurückziehen könnten. Rechtzeitig?

Gottwald: Es liegt in der Natur der Sache. In den besten Unternehmen werden Übergaben so geplant und umgesetzt, dass sie niemandem auffallen. Diese Hoffnung habe ich, was den Skiverband angeht, auch noch. In einem nächsten Schritt Dinge zu verändern, die längst fällig sind, und Bewährtes fortzuführen ist die Herausforderung, die auf den Nachfolger wartet.

STANDARD: Sie haben sich in die Debatte um Missbrauch im Skisport sehr deutlich eingebracht. "Wir waren Täter und Opfer", haben Sie gesagt. Wurden seither die richtigen Schritte gesetzt?

Gottwald: Sinnentleerte Rituale haben sich ja zum Teil schon in meiner Zeit erledigt. Generell betreffen alle gesellschaftsrelevanten Themen auch den Sport. Spitzensport ist eben nur ein Fraktal unserer Gesellschaft, und es gibt da wie dort Unbrauchbares wie Korruption, Betrug, Missbrauch in allen seinen Formen. Die Frage ist immer, wie wir damit umgehen. Es braucht klare Wertvorstellungen, die geben uns Menschen Sicherheit und Orientierung. Alle Beteiligten wissen, woran sie sind und welche Konsequenzen sie bei Nichteinhaltung erwartet. Klare Regeln und die Messbarkeit zeichnen den Sport aus. Die Besten setzen sich im Sport zum Glück auch ohne Lobby und Netzwerk durch. Und dann bleibt immer noch das eigene Spiegelbild – ein Leben lang! (Sigi Lützow, 26.2.2019)