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Die Diakonie und Organisationen von und für Menschen mit Behinderung sehen in der eugenischen Indikation eine moralisch unzulässige Bewertung behinderten Lebens.

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Sonntag, 8 Uhr. Das Handy läutet. "Sind Sie die Pfarrerin, die dieses Wochenende Bereitschaft hat", fragt die Stimme einer Krankenschwester. "Wir haben eine Patientin, die auf eine stille Geburt wartet. Sie wünscht sich, dass eine Seelsorgerin kommt und eine Verabschiedung für das Kind gestaltet. Es kann aber noch dauern." Es hat gedauert. Während meiner Wochenendbereitschaft kam kein Anruf mehr.

Diese Frau, die ich nie kennengelernt habe, hat sich in einer Situation befunden, die man sich kaum vorstellen kann, wenn man sie nicht selbst erlebt hat – und die sich allgemein so beschreiben lässt: Sie ist schwanger. Spürt, wie sich das Kind in ihrem Bauch bewegt. Sie freut sich auf dieses Kind. Dann die Diagnose. Schwere Fehlbildung, man wisse nicht, ob das Kind überleben werde und, wenn ja, wie lange, sagen die Ärzte, jedenfalls werde es starke Schmerzen haben. Ein interdisziplinäres Beratungsgremium kommt einstimmig zu dem Schluss, dass eine Indikation für einen Fetozid vorliegt. Fetozid – das heißt Schwangerschaftsabbruch ab der 22. Woche. Dem Fötus wird Kaliumchlorid injiziert, innerhalb weniger Minuten tritt ein Herzstillstand ein. Dann wird die Geburt eingeleitet. Es wird Stunden dauern. Viele Stunden.

Ein moralisches Dilemma

Die Fragen, die sich Frauen in solchen Situationen stellen, sind existenziell: Wie soll ich das schaffen? Wie wäre es, wenn mein Kind zur Welt kommt? Was bin ich meinem Kind schuldig? Was bedeutet Verantwortung jetzt? Keine Frau, kein Paar entscheidet sich leichtfertig für einen Spätabbruch. Das moralische Dilemma, das Ringen um eine verantwortliche Entscheidung und den Schmerz der Eltern, aber auch die medizinische Sorgfalt und ethische Gewissenhaftigkeit der Ärztinnen und Ärzte – das alles müssen wir uns vor Augen führen in der aktuellen Debatte über ein Verbot von Spätabbrüchen.

In Österreich ist ein Schwangerschaftsabbruch auch über den dritten Monat hinaus straffrei, wenn "eine ernste Gefahr besteht, dass das Kind geistig oder körperlich schwer geschädigt sein werde" (§ 97 StGB). Organisationen von und für Menschen mit Behinderung sehen in dieser eugenischen oder embryopathischen Indikation eine moralisch unzulässige Bewertung behinderten Lebens. Auch die Diakonie.

Die Bestimmung eines Lebens mit Behinderung als "lebensunwert", seine "Prävention" im Namen der "Volksgesundheit" und seine mörderische Vernichtung durch die Euthanasieprogramme der Nationalsozialisten haben sich tief in das kollektive Gedächtnis eingeprägt, Menschen mit Behinderung trifft das ins Mark ihrer Existenz. Seit Jahren fordern Diakonie und evangelische Kirche die Streichung der eugenischen Indikation.

Die Abschaffung der eugenischen Indikation ist jedoch nicht gleichzusetzen mit einem Ver- bot von Spätabbrüchen. Vielmehr wäre eine Regelung nach deutschem Modell anzudenken: Die eugenische Indikation wurde durch eine medizinische Indikation aufseiten der Mutter ersetzt. Bei Gefährdung ihrer körperlichen oder psychischen Gesundheit ist ein Schwangerschaftsabbruch auch nach der zwölften Woche straffrei. Spätabbrüche sind damit weiterhin möglich. Aber sie basieren nicht – und das ist ein ethisch entscheidender Unterschied – auf einer embryopathischen Diagnose beziehungsweise Bewertung des werdenden Lebens.

Schwangerschaften stellen eine einzigartige Handlungskonstellation dar. Anders als nach der Geburt, kann während der Schwangerschaft niemand stellvertretend für die Schwangere Verantwortung für das Kind übernehmen. In dieser Situation sind das existenzielle Wohl und die Autonomie der schwangeren Frau besonders zu berücksichtigen. Die Diagnose Behinderung bringt die werdende Mutter in einen Konflikt: Ich will dieses Kind, freue mich darauf. Aber kann ich es auch bekommen, schaffe ich das? Was soll ich tun, was ist richtig? Eine solche moralische Dilemma-Situation lässt sich nicht durch ein Verbot lösen. Eine Frau darf nicht verpflichtet werden, ein Kind mit Behinderung auf die Welt zu bringen, wenn das ihre physische und psychische Belastungsgrenze überschreitet. Es gilt der ethische Grundsatz: Über das Können hinaus ist niemand verpflichtet. Wohl aber muss gefragt werden, was das Können fördert.

Die Haltung der Gesellschaft

Sowohl die Haltung der Gesellschaft zu Menschen mit Behinderung als auch soziale und ökonomische Bedingungen beeinflussen Entscheidungen werdender Eltern. Hier muss gesellschaftliche Verantwortung ansetzen: Es braucht ergebnisoffene Beratung, die auch über Behinderung und Unterstützungsangebote informiert. Es braucht flächendeckend Frühförderung von Kindern mit Behinderung, inklusive Kindergartenplätze und Schulen, Schulassistenz und Nachmittagsbetreuung für Kinder mit Behinderung und vieles mehr.

Ein Ausbau dieser Unterstützungsangebote wäre fair und würde – zumindest bei frühen und weniger schweren Diagnosen – an der einen oder anderen individuellen Entscheidung etwas ändern. Die Entscheidung selbst kann und darf kein Verbot den werdenden Müttern abnehmen. (Maria Katharina Moser, 25.2.2019)