Die jüngste provokante Herausforderung der EU durch Viktor Orbán hat die Spannungen innerhalb der gespaltenen Europäischen Volkspartei (EVP) scheinbar ins Unerträgliche gesteigert. Zum ersten Mal wird ein christdemokratischer Spitzenpolitiker, Kommissionschef Jean-Claude Juncker, zusammen mit dem "Teufel vom Dienst", dem amerikanisch-ungarischen Milliardär George Soros, sinngemäß als Feind Ungarns auf den Regierungsplakaten für die Europawahlkampagne abgebildet. Der Schein der Empörung bei Orbáns Parteifreunden in Brüssel trügt. Die EVP-Mehrheit wird es nicht wagen, die Orbán-Partei auszuschließen. Sie braucht die zwölf Stimmen im Europaparlament und bei der Wahl des Kommissionspräsidenten.

Die Angriffe der europäischen Sozialdemokraten und ihres Spitzenkandidaten Frans Timmermans, Vizepräsident der EU-Kommission, gegen die Heuchelei der EVP-Politiker sind allerdings unglaubwürdig. Die Sozialdemokraten heucheln auch, wenn sie das Orbán-Regime oder dessen Gesinnungsfreunde an der Spitze der polnischen Regierung wegen der Missachtung rechtsstaatlicher Grundsätze geißeln. Wäre das abstoßende Schauspiel, das die sich sozialdemokratisch nennende rumänische Regierungspartei in den letzten Monaten aufführt, in einem Rechtsstaat möglich? Die international angesehene Leiterin der Antikorruptionsbehörde wurde trotz europaweiter Proteste abgelöst und der gesamte Justizapparat gesäubert, um die wegen massiver Bestechungen und Veruntreuungen angeklagten, hochrangigen sozialdemokratischen Politiker vor Haft zu schützen und sie durch Gesetzesänderungen weißzuwaschen. In keinem postkommunistischen Land wurden so viele sozialdemokratische Regierungschefs und Minister gerichtlich verfolgt wie in Rumänien. Sogar der Staatspräsident ist machtlos gegen die korrupte Clique, die den Staat beherrscht.

Ob Timmermans, der im Wahlkampf sogar nach Budapest fuhr, um die sozialdemokratische Opposition zu stärken, wusste, dass laut regierungskritischen Medien Spitzenfunktionäre der ungarischen Sozialdemokraten in Korruptionsaffären verstrickt sind und dass ihr Budapester Parteichef und bekannte Abgeordnete heimlich mit der Regierungspartei Fidesz zusammenarbeiten?

Auch um die in der Slowakei federführende, sich zur Sozialdemokratie bekennende Smer-Partei kursieren hartnäckige Gerüchte über die Kontakte zwischen Korruptionsnetzwerken und dem Umfeld des früheren Ministerpräsidenten Robert Fico. Seit der Ermordung des jungen Journalisten (und seiner Verlobten) vor einem Jahr, der über Verbindungen zur italienischen Mafia recherchierte, gärt es in der Slowakei. Fico, der Innenminister und der Polizeichef mussten zurücktreten. Über die Drahtzieher herrscht aber noch immer Unklarheit.

Die Führungen der sogenannten Sozialdemokraten in Bukarest, Budapest und Bratislava haben nichts mit dem einst von Kreisky, Brandt und Palme vertretenen Werten zu tun. Solange sich die linken und liberalen EU-Politiker nicht ähnlich intensiv um die moralischen und rechtsstaatlichen Grundsätze ihrer Parteifreunde in Osteuropa kümmern, wie um die Praxis der nationalistischen Rechtspopulisten, bleiben sie des Etikettenschwindels schuldig. (Paul Lendvai, 25.2.2019)