Die Anspannung des Gehirns vor einem Sprung lässt sich im EEG messen. Die Ergebnisse sind in der Entwicklung von Neuroprothesen wichtig.

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Was passiert im Gehirn eines Menschen, der kurz davor ist, von einer 192 Meter hohen Brücke an einem Bungee-Seil herunterzuspringen? Dieser Frage ist das Team um Surjo Soekadar von der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Charité in einem spektakulären Experiment nachgegangen. Die Forscher ließen zwei Probanden insgesamt 30 Mal von der 192 Meter hohen Europabrücke bei Innsbruck springen und nahmen dabei deren Hirnströme auf.

So konnten sie in einer realen Umgebung nachweisen, dass bewegungsbezogene Hirnaktivität auch in Situationen zuverlässig gemessen werden kann, in denen starke Emotionen eine Rolle spielen – in dem Fall die Aufregung bei einem solchen Sprung. Damit haben sie das Bereitschaftspotential zum ersten Mal außerhalb des Labors belegt und gezeigt, wie sich extreme Gefühlszustände darauf auswirken.

Elektrische Spannungsverschiebung

Das Bereitschaftspotential ist eine elektrische Spannungsverschiebung im Gehirn, die über die menschliche Kopfhaut mittels Elektroenzephalographie (EEG) gemessen wird. Es zeigt eine bevorstehende willentliche Handlung – zum Beispiel eine Handbewegung – an und entsteht, noch bevor sich die handelnde Person bewusst wird, dass sie gleich diese Bewegung ausführen wird. Das Phänomen wurde 1964 von Lüder Deecke und Hans-Helmut Kornhuber entdeckt, als beide unter strengen Laborbedingungen die Hirnströme von Probanden bei Fingerbewegungen in hunderten Versuchsdurchläufen maßen.

"Die Messung dieser elektrischen Potentiale ist bereits im Labor extrem sensibel, da die Spannungsverschiebung nur wenige Millionstel Volt beträgt. Doch um alltagstaugliche Gehirn-Computer-Schnittstellen zu entwickeln, wollten wir untersuchen, ob das Bereitschaftspotential auch unter realen Umständen aufzuzeichnen ist", so Soekadar. Das konnten die Wissenschaftler mit ihrem Experiment bereits nach wenigen Sprüngen beweisen.

Angst hat keinen Einfluss

Zudem fanden sie heraus, dass sich die Hirnaktivität bei den Sprüngen aus 192 Metern Höhe nicht von der Hirnaktivität bei Sprüngen aus nur einem Meter Höhe unterscheidet. Die zwei Probanden sprangen ebenfalls insgesamt 30 Mal aus ein Meter Höhe. Dieses Ergebnis bedeutet, dass die Angst vor einer vermeintlich lebensgefährlichen Handlung keinen Einfluss auf die Ausprägung des Bereitschaftspotentials hat.

Die Studie schafft eine wichtige Grundlage für die Weiterentwicklung von Gehirn-Computer-Schnittstellen. Solche übersetzen Hirnaktivität in Steuersignale von Robotern oder anderen technischen Geräten. Sie ermöglichen zum Beispiel Querschnittsgelähmten, wieder selbstständig zu essen. Hierbei führt die Hirnaktivität, die bei dem Gedanken an eine Greifbewegung entsteht, zu einer tatsächlichen Greifbewegung einer elektromechanischen Stützstruktur, die an der gelähmten Hand befestigt ist.

Im Alltag ist es sehr wichtig, dass auch starke Gefühle die Steuerung solcher Neuroprothesen nicht beeinträchtigen. "Unsere Ergebnisse deuten darauf hin, dass wir Gehirn-Computer-Schnittstellen auch unter extremer emotionaler Anspannung zuverlässig einsetzen können", erklärt Soekadar. Er und sein Team werden dieses Wissen nun in eine Studie einfließen lassen, bei der Querschnittsgelähmte und Schlaganfallpatienten solche Stützstrukturen verwenden sollen. (red, 27.2.2019)