Radikale Farbkombinationen, dynamische Formen: Die Plakate von Emil Pirchan (1884-1957) verweisen auf seine expressionistischen Bühnenbilder.

Foto: Emil Pirchan

Emil Pirchan mit Masken im Atelier, Berlin ca. 1920

Foto: Sammlung Steffan / Pabst

Projektskizze für ein Theater in Südamerika, Berlin ca. 1930

Foto: Sammlung Steffan / Pabst, Foto: Theatermuseum, Wien

Tram-Plakat Panovo, München 1912

Foto: Sammlung Steffan / Pabst, Foto: Salon Iris Fine Art Printing, Wien

Einige Kisten auf dem Dachboden des Elternhauses in der Schweiz: Als Beat Steffan vor einigen Jahren daran ging, ihren Inhalt zu untersuchen, fand er darin eine Unzahl sorgsam gefalteter Plakate. Da gab es Entwürfe für Schmuck- und Möbelstücke, da moderten Stoff- und Bühnenbildentwürfe vor sich hin. Sogar ein Modell für einen gigantischen Theaterbau fand sich in den von der Mutter gut gehüteten Kisten. "Vorschlag für ein Theater in Südamerika" steht in krakeliger Schrift auf den Skizzenblättern. Wo das Bühnenhaus stehen sollte, das weiß man bis heute nicht.

Wäre es je gebaut worden, hätte es allerdings mit Sicherheit für Furore gesorgt. Im Zentrum des Ufo-artigen Gebildes: ein riesiger Bühnenraum, flankiert von gigantischen Seiten- und Hinterbühnen. Streng formalistisch, mit Art-déco-Elementen. Hier skizzierte jemand seinen Traum von einer Bühne der Zukunft, in deren Zentrum das Theater stehen sollte. Nur das Theater.

Profitänzer zwischen Disziplinen

Das Werk eines Theaternarren? Ja. Aber gleichzeitig auch der Entwurf eines Mannes, der sich mit der Leichtigkeit eines Profitänzers zwischen den Disziplinen bewegte. Theatermenschen kennen Emil Pirchan als Bühnenbildner, als Plakatentwerfer und Gründer einer Münchner Plakatschule kennen ihn Grafikinteressierte. Und wer in der Kunstgeschichte bewandert ist, weiß vielleicht auch, dass Pirchan die erste Klimtmonografie geschrieben hat – neben biografischen Werken über Hans Makart, Fanny Elßler oder Otto Wagner. Der breiteren Öffentlichkeit ist der 1884 in Brünn geborene Pirchan aber kaum bekannt. Geschweige denn, dass er sich genau so als Designer wie als Innenarchitekt, Filmausstatter oder als Romanautor betätigte.

Das möchte nicht zuletzt sein Enkel Beat Steffan, einst professioneller Windsurfer, ändern. Die vergangenen drei Jahre widmete er der Aufarbeitung des Nachlasses seines Großvaters, eine Aufgabe, die vergangenen Herbst in der Herausgabe eines Prachtbandes im Nimbus-Verlag mündete. Im Folkwang-Museum in Essen sind jetzt die Originale dieses vergessenen "Universalkünstlers" ausgestellt. Zu sehen ist das Werk eines Mannes, der die Reformbewegungen zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts in sich aufgesaugt und weitergetrieben hat.

Ästhetische Anliegen

Aber auch von jemanden, dessen Anliegen mehr ästhetischer als politischer Natur waren, der sich als Handwerker und als Künstler sah, der sich gleichermaßen an Strukturen anpassen wie sie durchtauchen konnte, und der als einer der wenigen Professoren an der Wiener Akademie auch nach der Nazi-Diktatur weiterarbeiten durfte, weil er unbelastet war. Das Bauhaus-Jahr scheint prädestiniert, sich an Pirchan und sein dem Expressionismus verpflichtetes Schaffen zu erinnern.

Wobei die Erfindung, mit der er in die Theatergeschichte eingehen sollte, nicht einmal seinen Namen trägt. Gemeinsam mit dem Theaterrevolutionär Leopold Jessner entwickelte Pirchan eine freistehende Stufenbühne, die erstmals 1919 bei der legendären Wilhelm Tell-Inszenierung mit Fritz Kortner in der Titelrolle eingesetzt wurde. Die Jessner-Treppe war das Zentrum eines streng formalistischen, raum- und zeitlosen Bühnenraums, das den Menschen und seine expressive Bühnensprache in den Mittelpunkt stellte. Jessners Tell entfachte einen veritablen Skandal – und wurde zum Grundstein für eine fruchtbare Zusammenarbeit, mit der man sich vom illusionistischen "Meiningertum" abhob und einem allem Überflüssigen entkleideten Expressionismus zuwandte. Inklusive gefinkelter Bildprojektionen.

Anfänge als Werbegrafiker

Beinahe zehn Jahr hatte Pirchan zu diesem Zeitpunkt bereits als Werbegrafiker gearbeitet und es dabei in München zu einer erstaunlichen Karriere gebracht. Ausgebildet bei Otto Wagner baute Pirchan als Architekt bis 1918 nur ein einziges Haus. Als Plakatgestalter reüssierte er aber innerhalb kürzester Zeit – und das in einer Stadt, die ein Zentrum für Plakatkunst darstellte. Der Grund hierfür liegt wohl zu einem in Pirchans Wendigkeit. Kommerzielle und künstlerische Interessen wusste er fein auszutarieren. Zum anderen spielte er meisterhaft auf der Klaviatur des Jugendstils – und nahm mit kühnen Farbflächen, radikalen Farbkombinationen und scherenschnittartigen Formen Gestaltungsprinzipien der expressionistischen Bühnenbilder vorweg.

Kunst oder Kommerz, High oder Low, L'art pour l'art oder Gebrauchsgegenstände: Genau so wie Pirchan fast alle seine Werke unabhängig von ihrer Gattung signierte, vertrat er die Reformidee der Einheit der Künste. In Essen ist jetzt der "gesamte Pirchan" zu sehen. Eine Entdeckung. (Stephan Hilpold aus Essen, 27.2.2019)