Frauen mit Lipödemen denken, sie haben Übergewicht. Doch die ungleiche Fettverteilung im Körper hat hormonelle Ursachen.

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In Deutschland will Gesundheitsminister Jens Spahn Frauen mit Lipödem künftig die Kosten für die Fettabsaugung erstatten. Lipödem ist eine recht unbekannte Erkrankung – zumindest bis vor wenigen Monaten, Mitte Jänner sagte Spahn dann der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung", dass Krankenkassen Menschen mit Lipödem künftig die Fettabsaugung bezahlen sollten. Seitdem macht das Wort Schlagzeilen. Auch in Österreich werden die Kosten des Eingriffs nicht von allen Krankenkassen erstattet. Aber was verbirgt sich eigentlich hinter dem Begriff Lipödem? Und ist die Fettabsaugung, die sogenannte Liposuktion, wirklich das Einzige, was den Betroffenen hilft?

Fettzellen und Hormone

Das Lipödem entwickelt sich für gewöhnlich aus der sogenannten Lipohypertrophie, einer Fettverteilungsstörung an Extremitäten, die nahezu ausschließlich Frauen betrifft. Bei den Betroffenen lagern sich im Unterhautfettgewebe der Beine, manchmal auch der Arme, mehr Fettzellen ab als normal. Selbst bei einem schlanken Oberkörper haben sie daher breite Ober- und Unterschenkel. Hände und Füße sind wiederum unauffällig.

Die Fettverteilungsstörung ist vermutlich genetisch veranlagt, ihr Ausbruch wird jedoch durch Hormone getriggert. Die Lipohypertrophie entwickelt sich deshalb vor allem während der Pubertät, also in einer Phase, in der Frauen oft starke Hormonschwankungen haben. "Schwangerschaft oder die Wechseljahre können die Fettverteilungsstörung zusätzlich verstärken", erklärt der Internist und Lymphologe Ulrich Herpertz, der bereits seit gut 35 Jahren Betroffene behandelt.

Die Lipohypertrophie ist jedoch keine Krankheit, sondern erst einmal nur eine besondere Körperform. Zu einem Lipödem wird diese nur, wenn es wehtut. Der Schmerz ist deshalb das ausschlaggebende Kriterium für die Diagnose. "Kein Lipödem ohne Schmerzen", stellt Herpertz fest. Beschrieben werden diese von den Frauen mitunter als "dumpf", "ziehend" oder "stechend". Was genau die Schmerzen verursacht, ist bisher nicht eindeutig geklärt. Möglich ist, dass die vielen und teils vergrößerten Fettzellen die dortigen Nervenfasern zusammenpressen oder Nerven Empfindungen wie Druck einfach falsch interpretieren.

Die Fettansammlungen drücken außerdem auf die Blutgefäße, wodurch aus dem Blut mehr Wasser in das Bindegewebe gepresst wird. "Die erhöhte Durchlässigkeit der kleinsten Blutgefäße (erhöhte Kapillarpermeabilität) macht außerdem das vermehrte Fettgewebe und damit die Haut prall", erklärt Herpertz. Auch dies könnte das Spannungsgefühl sowie die Druckschmerzhaftigkeit verursachen.

Wasser im Gewebe

"Mitunter entwickeln Betroffene auch Ödeme, also Wassereinlagerungen", erklärt Christine Radtke, Leiterin der Klinischen Abteilung für Plastische und Rekonstruktive Chirurgie der Medizinischen Universität Wien. Und sei der Lymphfluss einmal gestört, werde das Blut nicht mehr richtig gefiltert, und somit steige das Risiko einer Infektion. "Auch die Schmerzen nehmen beim Lipödem mit der Zeit tendenziell zu", weiß die Chirurgin. Die Leitlinien zur Behandlung des Lipödems beschreiben die Krankheit daher auch als eine "progrediente", also als eine Erkrankung, die sich tendenziell verschlechtert.

Wie viele Frauen vom Lipödem betroffen sind, dazu gibt es keine repräsentativen Studien. Der deutsche Gesundheitsminister Spahn spricht zwar von gut drei Millionen Betroffenen in Deutschland, eine Quelle für diese Zahl nennt das Gesundheitsministerium jedoch nicht – auch nicht auf Nachfrage. Im Internet heißt es oft auch, dass nahezu jede zehnte Frau von der schmerzhaften Fettverteilungsstörung betroffen sei. Solche Angaben beruhen jedoch auf Schätzungen einzelner Kliniken – und die kommen zu recht unterschiedlichen Ergebnissen.

Studien aus dem ambulanten Bereich sprechen beispielsweise von einer Häufigkeit zwischen 0,1 und 9,7 Prozent. Lymphologische Spezialkliniken kommen hingegen auf einen Wert von bis zu 18 Prozent. Die Autoren einer umfassenden Übersichtsarbeit, die im Jahr 2018 im Fachblatt "International Wound Journal" erschienen ist, kommen hingegen zu dem Schluss, dass das Lipödem häufig mit anderen Erkrankungen verwechselt werde und letztendlich eher selten sei.

Kein Übergewicht

"Das Problem ist, dass die Krankheit oft zu spät erkannt wird und die Betroffenen einfach nur für übergewichtig gehalten werden", sagt Uwe Wollina, Chefarzt der Klinik für Dermatologie und Allergologie am Städtischen Klinikum Dresden. Statt einer Überweisung zum Lymphologen hören die Frauen dann einfach, sie müssten abnehmen. In seiner Sprechstunde sieht Wollina tatsächlich viele Frauen, die sich bei ihm wegen ihres Übergewichts behandeln lassen möchten. Sagt er ihnen dann, dass sie nicht einfach "dick" sind, sondern eine hormonell und genetisch bedingte Fettverteilungsstörung haben, dass ihre Schmerzen nicht eingebildet sind, sondern einen Namen haben, sind sie in der Regel unglaublich erleichtert. Denn zu diesem Zeitpunkt haben die meisten von ihnen schon unzählige Diäten hinter sich – und die schlagen auf die Psyche, besonders, da das Lipödem durchs Abnehmen nicht verschwindet.

"Das Lipödem lässt sich nicht einfach weghungern", erklärt Wollina. Zwar würden die Frauen irgendwann auch an den Beinen abnehmen, das disproportionale Verhältnis aber bleibe – ebenso wie die Schmerzen. Auf eine Diät folgt zudem oft der altbekannte Jo-Jo-Effekt. Das heißt, nachdem die Betroffenen abgenommen haben, nehmen sie das Gleiche wieder zu, manchmal sogar mehr.

Eine Studie der Universität Hohenheim aus dem Jahr 2013 kommt außerdem zu dem Ergebnis, dass Frauen (im Gegensatz zu Männern), wenn sie nach einer Diät wieder zunehmen, dies oft erst mal im Bereich der unteren Körperhälfte tun. Beim Lipödem kann das Abnehmen also sogar kontraproduktiv sein. "Wobei eine gute Ernährung und ein gesundes Körpergewicht natürlich auch für Lipödem-Patientinnen wichtig sind", betont Wollina. Denn starkes Übergewicht, was bei Lipödem-Patientinnen häufig vorkommt, kann das Lipödem verschlechtern. Was nur logisch ist: Denn je mehr die Betroffenen zunehmen, desto mehr Fettzellen bilden sich an den Beinen und desto stärker wird der Druck auf die dortigen Gefäße und Nerven.

Operation als Option

Lymphologe Herpertz kennt ebenfalls viele Frauen, bei denen das Lipödem lange nicht erkannt wurde, weil die Ärzte sie einfach für übergewichtig hielten. Seit einigen Jahren beobachtet er jedoch noch einen anderen Trend – und zwar sitzen mittlerweile immer mehr Frauen vor ihm, die selbst sagen, dass sie ein Lipödem haben und nun eine Fettabsaugung bräuchten. Das Problem: Die Frauen haben zwar einen voluminösen Unterkörper, oft sogar eine Lipohypertrophie, nur sind sie deshalb nicht krank.

Dass sie kein Lipödem haben, erkennt Lymphologe Herpertz recht simpel mit dem "Kneiftest". "Eine Frau mit Lipödem zuckt zusammen, wenn ich ihre Haut an den Stellen der Fettansammlung etwas stärker berühre", sagt er – die Frauen, die nun vor ihm sitzen, tun das für gewöhnlich nicht. Der stämmige Unterkörper ist also Teil ihrer Körperform.

"So hat sich auf Patientenseite das Lipödem in den vergangenen Jahren zu einer Ausflucht, zu einer Art Alibi für Gewichtszunahme und für Übergewicht entwickelt", heißt es in einem Beitrag der Fachzeitschrift "Phlebologie" aus dem Jahr 2018. So weit würde Herpertz jedoch nicht gehen. Vielmehr zeigt ihm die Entwicklung, die er in seiner Sprechstunde beobachtet, was für ein gesellschaftlicher Druck auf vielen – allen voran jungen – Frauen liegt und wie sehr das Selbstwertgefühl heute ans Aussehen geknüpft ist.

Die erste Maßnahme der Therapie eines Lipödems ist allerdings nicht die Fettabsaugung, sondern die Entstauung – etwa mittels manueller Lymphdrainage, einer speziellen Massage, die den Lymphfluss anregt. Dazu müssen die Frauen Kompressionskleidung tragen. "Diese drückt das Gewebe zusammen und verhindert, dass sich neue Gewebsflüssigkeit ablagert", erklärt Herpertz. Hierdurch werde das Fettgewebe wieder weicher und tue weniger weh.

Es geht um die Beweglichkeit

Nur wenn die konservativen Therapien ausgeschöpft sind, rät Chirurgin Radtke zur Liposuktion. "Bei der Operation geht es in erster Linie darum, die Beschwerden zu lindern und die Bewegungsfähigkeit der Frauen wiederherzustellen", erklärt Radtke.

Die Kosten der Behandlung werden jedoch auch in Österreich nicht immer von den Krankenkassen erstattet – und das hat seinen Grund: Die Fettabsaugung kann den Frauen zwar nachweislich helfen, die Effekte sind jedoch unterschiedlich. Das heißt, manche Frauen haben nach dem Eingriff tatsächlich kaum noch Schmerzen und können fortan ohne Lymphdrainage und Kompression leben. Bei anderen kommen die Schmerzen hingegen mit der Zeit wieder und die Krankheit schreitet weiter voran.

Mit ein Grund dafür, dass Spahn für seinen Vorschlag, die Liposuktion beim Lipödem in Deutschland künftig von Krankenkassen bezahlen zu lassen, nicht nur Lob erntete, sondern auch Kritik. Denn bisher gibt es keine repräsentative Studie, die den Nutzen der Behandlung nachweislich belegt. Die Autoren der Übersichtsarbeit zum Lipödem kommen zwar ebenfalls zu dem Schluss, dass die Fettabsaugung momentan die beste Methode ist, die Lebensqualität der Betroffenen zu verbessern. Die Studie, auf der sie ihre Aussage begründen, hatte allerdings nur 85 Teilnehmerinnen. Diese befanden sich nicht nur in sehr unterschiedlichen Krankheitsstadien, gut zwei Drittel der operierten Frauen hatten nach dem Eingriff auch weiterhin Schmerzen.

Um mehr über die Langzeitwirkung der Liposuktion zu erfahren, hat der Gemeinsame Bundesausschuss in Deutschland deshalb vorgeschlagen, die Fettabsaugung vorerst nur für Frauen im Stadium 3 zuzulassen, also solchen, bei denen die Erkrankung bereits weit fortgeschritten ist. Parallel dazu soll eine Studie gestartet werden, die die Behandlung noch einmal prinzipiell bewertet. (Stella Hombach, 26.3.2019)