Der französische Schriftsteller und Philosoph Bernard-Henri Lévy ergreift offen Partei für Emmanuel Macron.

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Den einen gilt er als engagierter Denker in der Tradition der europäischen Aufklärung, andere halten ihn für einen Blender, Snob und Philosophendarsteller: Der französische Intellektuelle Bernard-Henri Lévy brach als Kind der 1968er-Bewegung einst mit seinem marxistischen Lehrmeister Jean-Paul Sartre und begründete mit Gleichgesinnten die Gruppe Nouvelle Philosophie.

Die wandte sich aus antitotalitaristischer, liberaler Perspektive gegen undemokratische Tendenzen in der Linken. Umstritten ist Lévy, weil seine Verteidigung liberaler Eliten mitunter bis zur offenen Parteinahme für Konservative wie George W. Bush umschlug.

Aktueller Held Lévys ist der französische Präsident Emmanuel Macron. Sorgen bereiten dem 70-Jährigen die populistischen Versuchungen in Europa. Im Vorfeld der EU-Wahl tourt Lévy jetzt mit seinem Lesestück Looking for Europe durch 20 Länder. Sein Ziel: das liberale Europa verteidigen. Am 18. März gastiert er damit im Wiener Theater Akzent.

STANDARD: Was ist Ihre Vision für Europa und dessen Rolle in der Welt?

Lévy: Ich verstehe mich als Anwalt der westlichen Werte wie Demokratie und Liberalismus. Und ich will, dass sich diese Werte so weit wie möglich im Rest der Welt durchsetzen. Jetzt, wo die USA diese Rolle vernachlässigen, ergibt sich eine Chance und die Verpflichtung für Europa, diese Werte zu verteidigen.

STANDARD: Sie übten zuletzt Kritik an der österreichischen Regierung wegen deren Migrationspolitik. Früher haben Sie sich aber auch gegen Multikulturalismus in Europa ausgesprochen. Müssten Sie nicht eigentlich ein Freund strikter Grenzen sein?

Lévy: Nein, da verstehen Sie mich nicht ganz richtig. Ich meine: Multikulturalismus in Europa muss für mich eingebettet sein in die europäischen Werte. Und einer dieser Werte ist die Fähigkeit Europas, außereuropäische Kulturen und Sprachen zu integrieren. Europa hat die Kapazität, Brücken zu bilden, anstatt Mauern aufzubauen.

STANDARD: Also Willkommenskultur mit Integrationsauftrag?

Lévy: Ja. Die große Mehrheit jener, die nach Europa kommen, wollen sich integrieren. Natürlich wollen sie auch ihren Stolz, ihre Traditionen bewahren, aber sie kommen, weil sie europäisch leben wollen.

STANDARD: Ist das nicht eine etwas zu romantische Sicht?

Lévy: Sagen wir so: Menschen sind in einem Prozess. Sie werden die europäischen Werte nicht von heute auf morgen übernehmen, aber im Laufe der Zeit bestimmt. Aktuell sollten Regierungen wie die österreichische aufhören, daran zu denken, sich die europäische Menschenrechtskonvention neu zu schreiben.

STANDARD: Kanzler Sebastian Kurz ist für Sie ein rotes Tuch, weil er eine Koalition mit der FPÖ gebildet hat. Seine Strategie scheint zu sein, die Rechtspartei kleinzuhalten, indem er sie umarmt. Kann das funktionieren?

Lévy: Nein. Immer, wenn die konservative Rechte diese Kalkulation gemacht hat, hat sie verloren und die extreme Rechte gewonnen. Warum? Weil die Konservativen die Themen der Rechten banalisieren. Die Bevölkerung entscheidet dann, ob sie das Original oder die Kopie wählt. Normalerweise geht sie zum Original.

STANDARD: Kurz hat das Vorbild der ersten schwarz-blauen Koalition unter Schüssel vor sich. Die FPÖ hat das temporär ruiniert.

Lévy: Die Situation war damals eine andere. Alles hing sehr stark an der Person Jörg Haider.

STANDARD: Die FPÖ beschreibt ihre Vision für Europa oft als "Europa der Vaterländer" – eine Bezeichnung, die als "l’europe des patries" auf Charles de Gaulle zurückgeht. Wie denken Sie über diesen Begriff?

Lévy: Wenn Sie der FPÖ genau zuhören oder ihre Gründungsdokumente lesen, werden Sie keineswegs Ideen von Charles de Gaulle finden – das ist nur ein Trick. Sie werden Referenzen auf ein "Europa der Völker" finden, ein Konzept das eher aus den 1930er-Jahren kommt, aus den faschistischen Bewegungen.

STANDARD: Haben Sie nicht selbst immer den fehlenden Patriotismus in Europa beklagt?

Lévy: Ja, aber ich meine Patriotismus für Europa. Patriotismus für die die europäische Kultur, die Oper, die Architektur – speziell jene von Österreich – Patriotismus für die Tatsache, dass Österreich in den 1950er-Jahren so viele Ungarn aufgenommen hat, die vor dem Totalitarismus flüchteten. Das meine ich mit Patriotismus.

STANDARD: Als Gegenkonzept zum "Europa der Vaterländer" werden oft "Vereinigte Staaten von Europa" genannt, für die etwa auch der österreichische Schriftsteller Robert Menasse eintritt. Wollen Sie das?

Lévy: Ich bin dafür, ja. Weil die größten Probleme von heute kein Land allein bewältigen kann: Klimawandel, Migration, Terrorismus, verrückte Finanzen, die größte Armut. Das heißt nicht, dass wir die Nationen vergessen sollen, aber wir müssen eine neue, supranationale Agora schaffen, wo diese Dinge behandelt werden. Sonst werden wir von den Autokraten dieser Welt bestimmt, den Putins und Erdogans.

STANDARD: Sie haben einmal gesagt, dass der Brexit das Ende der EU bedeuten könnte. Aber wäre er nicht auch eine Chance für Kontinentaleuropa, seine Kooperation zu intensivieren?

Lévy: Nicht ganz. Ich habe gesagt, dass der Brexit zuallererst einmal Großbritannien sehr schaden würde – es würde zu Little England verkommen. Der Rest der EU würde wohl nicht kollabieren, aber er würde einen großen Teil seines Geistes, seiner Energie verlieren. Der moderne Liberalismus in Politik und Wirtschaft ist im Geiste Großbritanniens entstanden. Ähnliches gilt übrigens auch für Österreich: Wir schulden diesem Land so viel auf dem Gebiet der Kultur.

STANDARD: Wie ist Ihre Meinung zu aktuell breit diskutierten französischen Autoren wie Michel Houellebecq und Édouard Louis? Ersterer fokussiert auf Migration und das Problem des Islamismus, Letzterer auf Identitätsfragen und soziale Ungleichheit.

Lévy: Dazu möchte ich eigentlich nur sagen, dass Schriftsteller nicht als Theoretiker oder Ideologen wahrgenommen werden sollten. Es handelt sich um Leute, die in ihren Romanen Hypothesen aufstellen, die sie auf die Bühne der Welt werfen. Der Schriftsteller wagt ein Experiment: "Was würde sein, wenn...".

STANDARD: Dann zurück zu den Ideologen: Ein Politiker Ihrer Façon ist Emmanuel Macron. Seine Unfähigkeit, die sozialen Probleme in den Griff zu bekommen, hat ihm aber die Gelbwesten-Proteste eingebracht.

Lévy: Warum sagen Sie Unfähigkeit? Er war fähig, das Problem zu lösen: Die Bewegung stirbt, Macron hat gewonnen. Wie? Er hat das Beste der Gelbwesten, den Wunsch nach mehr Debatte und Dialog, in seine Politik integriert und das Schlechte der Bewegung, Gewalt, das Antidemokratische, Rassistische, Homophobe, Antisemitische, bekämpft.

STANDARD: Also war der Weg, Debatten im ganzen Land zu starten, der beste, den Macron gehen konnte?

Lévy: Exakt. Es war ein neuer Weg, mit einer Bürgerbewegung umzugehen. Eine neue Dimension demokratischen Verhaltens.

STANDARD: Aber können Sie verstehen, warum es zu dieser doch sehr stark und dynamisch in alle politischen Richtungen wachsenden Bewegung kam?

Lévy: Abgesehen von legitimen Wünschen nach einem besseren Leben, hat es zu tun mit Unzufriedenheit, die sich an dunkle und gefährlich antidemokratische Tendenzen knüpft. Diese schlummern in allen Gesellschaften. Und von Zeit zu Zeit kommen sie zum Vorschein.

STANDARD: Ist es nicht von Zeit zu Zeit notwendig, solche Eruptionen im Gesellschaftsgefüge zu haben, alleine deswegen, um Politiker wieder stärker dazu zu bringen, hinzusehen? Sie selbst haben das 1968 erlebt.

Lévy: 1968 war aber kein Antisemitismus vorhanden zum Beispiel. Bei den Gelbwesten hatten wir jetzt sehr viele antidemokratische, homophobe oder rassistische Gruppen. Ich glaube nicht, dass wir das brauchen, um Politiker aufzuwecken.

STANDARD: Bei Ihrer Lesetour durch 20 EU-Städte wollen Sie Länderspezifika aufgreifen, in Österreich die Habsburg-Monarchie. Ist deren Scheitern u. a. eine Warnung dafür, was passieren kann, wenn sich die EU nicht weiter demokratisiert?

Lévy: Ja, daraus können wir lernen. Wenn man sich heute ansieht, wie die europäische Bürokratie manchmal arbeitet, erinnert man sich an einen Roman von Robert Musil über die letzten Tage der Monarchie.

STANDARD: Können derart große, supranationale, pluralistische Gebilde an gewisse "naturgegebene" Grenzen stoßen?

Lévy: Nein, ich glaube nicht. Die Griechen dachten, Demokratie würde nur am Versammlungsplatz in Athen funktionieren, Rousseau dachte, sie würde nur auf dem Level einer Stadt gelingen, die Romantiker im 19. Jahrhundert glaubten an das Funktionieren der Nation, und ich sage heute, wir brauchen eine Kombination von all dem, plus einer neuen Agora für Europa. Es gibt einfach zu viele Probleme, die nur auf dieser Ebene gelöst werden können. (Stefan Weiss, 28.2.2019)