Wilhelm Lilge: "Für mich ist Schröcksnadel seit langem untragbar. Ich will nicht ausschließen, dass Schröcksnadel nicht gewusst hat, was da zwei oder drei Ebenen weiter unten immer wieder passiert ist."

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STANDARD: Wie groß ist Ihre Überraschung über die Verwicklung von ÖSV-Langläufern in den Dopingskandal bei der WM in Seefeld?

Wilhelm Lilge: Sie hält sich in Grenzen. In den letzten Wochen und Monaten haben sich Anzeichen dafür gehäuft, dass wieder etwas im Laufen ist. Es war eine Frage der Zeit, dass etwas passiert. Aber dass das jetzt in Seefeld sein wird, habe ich nicht gewusst.

STANDARD: Was sagen Sie dazu, dass der aufgrund seiner Erfolge oft als Musterverband titulierte Skiverband zum vierten Mal bei einem Großereignis, nach den Olympischen Winterspielen 2002, 2006 und 2014, im Zentrum eines Dopingskandals steht?

Lilge: Das ist total irre. Da stellt sich schon die Frage, ob die Strukturen in diesem Verband angemessen sind. Es sieht jedenfalls nicht so aus, als hätte man nach den vergangenen Fällen die geeigneten Maßnahmen gesetzt, um Doping zu verhindern.

STANDARD: Sie haben gesagt, Sie würden Peter Schröcksnadel als ÖSV-Präsidenten für untragbar halten. Woran machen Sie das fest?

Lilge: Für mich ist Schröcksnadel seit langem untragbar. Ich will nicht ausschließen, dass Schröcksnadel nicht gewusst hat, was da zwei oder drei Ebenen weiter unten immer wieder passiert ist. Aber er ist verantwortlich für sein Personal. Er hat die Leute ausgesucht und eingesetzt, die ganz nahe an den Sportlern dran waren. Und wenn ein Trainer eines dopenden Spitzensportlers behauptet, er habe davon nichts mitbekommen, gibt es nur zwei Möglichkeiten: Entweder der Trainer ist ein Lügner, oder er ist ein sehr, sehr schlechter Trainer. Einem guten Trainer müsste sofort ausfallen, dass und wie sich Doping auswirkt. Einem guten Trainer fällt schon eine Leistungssteigerung um ein, zwei Prozent auf. Ich verstehe nicht, dass Schröcksnadel so viel politische Unterstützung hat. Ich kann das nur auf die unheilige Allianz Skiverband–"Kronen Zeitung"–ORF zurückführen. Sie ist ein Armutszeugnis für den österreichischen Sport.

STANDARD: Die Empörung des unmittelbaren Umfelds wirkt aber glaubhaft, oder nicht?

Lilge: Man muss sich schon auch vor Augen führen, wer sich da echauffiert. Da sind Leute dabei, die in ihrer Aktivenzeit zuerst jahrelang behauptet haben, dass man ohne Doping nicht gewinnen kann. Und dann haben sie plötzlich selbst gewonnen. Ich erinnere mich an das Wunder vom österreichischen Langlauf-Staffelsieg bei der WM 1999 in Ramsau und an Leute, die im Ziel gleich dem Arzt um den Hals gefallen sind.

STANDARD: Dass der ÖSV-Präsident und der zuständige Funktionär die Doper als, ich zitiere, Trotteln und Hunde bezeichnen, reicht Ihnen also nicht?

Lilge: Ganz im Gegenteil, das finde ich völlig deplatziert und sogar menschlich schäbig. Ich hasse Doping, das können Sie mir glauben, aber deshalb kann man doch einen Menschen nicht Hund heißen. Das ist ganz schlechter Stil. Ich kann einen Menschen, der dopt, Betrüger nennen. Und aus.

STANDARD: Eine tragende Rolle auch im aktuellen Fall spielt der ehemalige ÖSV-Langläufer Johannes Dürr, der 2014 erwischt und gesperrt worden ist. Wie sehen Sie Dürr?

Lilge: Zwiespältig. Natürlich ist es gut, wenn nun ein Dopingnetzwerk auffliegt. Noch besser wäre aber gewesen, wenn das gleich 2014 passiert wäre. Damals hat es sicher auch schon Erhebungen gegeben, die haben damals bei Dürr zu nichts geführt, da hat er nichts preisgegeben. Jetzt wollte er sich für diese WM qualifizieren und wurde vom ÖSV nicht berücksichtigt. Und es gibt ein Buch über ihn. Da muss man nur eins und eins zusammenzählen.

STANDARD: Sind Dürr und seine nun erwischten Kollegen nicht zuletzt als Opfer eines Systems zu sehen?

Lilge: Damit wäre ich sehr vorsichtig. Dopende Sportler sind keine Opfer. Es ist noch keiner versehentlich in die Spritze gefallen. Zu dopen ist eine sehr bewusste Entscheidung eines Sportlers. Der nimmt wohlwissend das Risiko in Kauf, dass er erwischt werden könnte.

STANDARD: Aber ist dieses Risiko nicht enorm hoch für, nur zum Beispiel, den sechsten WM-Platz im Teamsprint, den Dominik Baldauf und Max Hauke mit noch dazu sehr viel Glück erreicht haben?

Lilge: Eigenblutdoping ist in Österreich zunächst einmal kein Straftatbestand. Wer dabei erwischt wird, wird im Normalfall zwei oder vier Jahre gesperrt. Und er ist halt eine Woche lang der Trottel der Nation. Nichtleistungssportlern ist die Motivation von Leistungssportlern praktisch nicht zu verklickern. Es geht jedenfalls nicht darum, reich zu werden. Wenn einer reich werden will, wird er ja nicht Langläufer. Aber diese nicht erklärbare Motivation gibt es ja auch in anderen Lebensbereichen. Warum tun sich manche die Politik an? Um jeden Tag in der Zeitung zu lesen, welche Trotteln sie sind? Es gibt auch etliche Politiker, die anderswo besser verdienen würden.

STANDARD: Müsste Doping, auch Eigenblutdoping, noch härter bestraft werden?

Lilge: Österreich hinkt hinter Deutschland, Italien und Frankreich her. Der Radfahrer Bernhard Kohl hat vor Jahren jedenfalls gesagt, er hätte nicht gedopt, wenn ihm eine Haftstrafe geblüht hätte. Aber immerhin gibt es in Österreich seit geraumer Zeit eine gute Kooperation zwischen der Antidopingagentur Nada und dem Bundeskriminalamt. Diese Zusammenarbeit hat schon zu einigen Ergebnissen geführt.

STANDARD: Baldauf und Hauke sind Polizeisportler. Müssen dopende Sportler nicht auch um ihre berufliche Zukunft bangen?

Lilge: Natürlich sollen und müssen auch dopende Sportler eine berufliche Zukunft haben. Du kannst Dopern nicht alle Möglichkeiten verbauen. Da wäre ich stark dagegen. Das Leben geht weiter. Wenn ich einem Suchtkranken oder einem Alkoholabhängigen nie wieder einen Job gebe, helfe ich ihm auch nicht weiter.

STANDARD: Landläufig herrscht die Meinung, Spitzenresultate seien ohne Doping gar nicht möglich.

Lilge: Das ist das Schlimmste an Dopingskandalen wie diesem in Seefeld. Wieder einmal heißt es jetzt, dass sicher alle Spitzensportler dopen. Dabei ist das absoluter Unsinn. Damit echte Spitzenresultate herauskommen, müssen ganz viele Faktoren stimmen. Und Doping muss ganz sicher keiner dieser Faktoren sein.

STANDARD: Welche Rolle spielt die Erwartungshaltung der Öffentlichkeit?

Lilge: Wie gesagt, ein Sportler ist in erster Linie für sich selbst verantwortlich, setzt sich selbst unter Druck. Aber natürlich spielt die Öffentlichkeit, spielen die Medien, spielt die Politik mit. Alle wollen Leistungen sehen, alle wollen Medaillen sehen. Das erhöht den Druck. Auch die Öffentlichkeit nimmt Doping bis zu einem gewissen Grad in Kauf. Sportler sollen sich halt nicht erwischen lassen. Aber gegen Doping zu argumentieren ist ja kaum noch mehrheitsfähig. Ich trau mich gar nicht reinschauen ins STANDARD-Forum, auch da ist sicher zu merken, dass die breite Masse nur Erfolge fordert. Das österreichische Sportfördersystem in seiner gegenwärtigen Form ist auch ein Dopingfördersystem. Jeder Verband, jeder Funktionär wird vor allem daran gemessen, wie viele Medaillen seine Sportler holen.

STANDARD: Was wäre die Alternative?

Lilge: Effektiv wäre es, vor allem in Infrastruktur zu investieren. Und in den Nachwuchs. Die allerbesten Trainer sollten sich um den Nachwuchs kümmern. Aber bei vielen kleineren Vereinen in diversen Sportarten sieht es ja so aus, dass kaum hundert Euro da sind für Menschen, die darauf schauen, dass Kinder sich bewegen. Unser Sportfördersystem sieht so aus, dass sehr viel Geld, mehr Geld als in vielen anderen Ländern, oben hineingegossen wird. Unten, bei den Sportlern, kommt davon relativ wenig an, und ganz unten, beim Nachwuchs, kommt fast gar nichts mehr an. (Fritz Neumann, 28.2.2019)