Hat er den Finger am Drücker, fällt er in Ohnmacht: Michael (Peter Fasching, re.) kämpft in "Rojava" an der Seite kurdischer Freiheitskämpferinnen (Isabelle Knöll, li.).

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Die Bühne ist ein Trümmerhaufen. Einst war hier eine Fahrschule, jetzt liegen auf dem Gelände die Toten begraben. Riesige, bröckelnde Betonstelen ragen aus dem Boden, dazwischen einige Sandsäcke. Konzentriert man sich, lassen sich die Kampfgeräusche aus der Ferne einzelnen Waffengattungen zuordnen. Eine ballernde AK-47? Das müssen Jihadisten sein. Sparsam eingesetzte Munition deutet auf kurdische Rebellen hin, schwere Waffen auf Assads Regierungstruppen.

Rojava nennt der Wiener Autor Ibrahim Amir sein neuestes Stück, nach dem gleichnamigen autonomen Gebiet entlang der türkischen Grenze in Nordsyrien. Als die Regierung vor sechs Jahren die Kontrolle über das hauptsächlich von Kurden bewohnte Gebiet verlor, wurde hier die Demokratische Föderation Nordsyrien errichtet. Eine selbstverwaltete Zone, die Menschen wie Michael die Tränen in die Augen treibt. Ethnische Differenzen werden anerkannt, Männer und Frauen sind gleichgestellt, jede Stimme zählt. So die Theorie.

Die Praxis schaut natürlich etwas anders aus, wie der junge Wiener mit dem Gitarrenkoffer am Rücken bald feststellen muss. Er ist nach Rojava gekommen, um an der Revolution, die hier im Gange sein soll, teilzunehmen. Das Gewehr im Anschlag, die Vision einer besseren, gerechten Welt im Visier. "Der Kampf hier hat den Ruf, dass er ein Kampf für die ganze Menschheit ist", klärt er die beiden Kurden Kaua und Alan auf, die ihrerseits einfach nur wegmöchten. Dieser Krieg, erklären sie, sei nicht ihr Krieg. Das ferne Japan ist das Sehnsuchtsland von Alan (Luka Vlatkovic).

Größer könnte die Fallhöhe nicht sein, die Ibrahim Amir in seiner schnellen, von Zeitsprüngen strukturierten Geschichte konstruiert. Die Unterschiede zwischen schönen Visionen und der schnöden Wirklichkeit, zwischen einer forsch behaupteten Geschlechtergerechtigkeit und den gelebten, von Traditionen überfrachteten Beziehungsmodellen. Oder um es in der Sprache des Stücks zu sagen: Zwischen Eiernockerln und Linsensuppe liegen Welten.

Als Michael einmal zu einem Vortrag über linkes Bewusstsein und Grenzen übergreifende Solidarität anheben will, weist ihn seine Kommandantin Hevin zurecht: Er möge den Genossinnen und Genossen doch lieber eine Geschichte erzählen, mit abstrakten Theorien könnten diese wenig anfangen.

Aufregung um Homohalal

Diesen Gedanken scheint auch Ibrahim Amir verinnerlicht zu haben. Mit 19 kam der syrische Kurde nach Wien, neben seiner Tätigkeit als Mediziner hat er in den vergangenen Jahren mehrere Stücke verfasst. Habe die Ehre wurde 2013 als beste Off-Produktion mit dem Nestroy-Preis ausgezeichnet, mit Homohalal provozierte er drei Jahre später einen kleinen Theaterskandal. In dem im Jahre 2037 spielenden Stück räsoniert eine Reihe ehemaliger Flüchtlinge, wie es damals war, als sie nach Österreich gekommen waren – und entpuppt sich dabei als genauso sexistisch, homophob und fremdenfeindlich wie viele ihrer österreichischen Mitbürger.

Im Umfeld der immer schärfer werdenden Diskussionen um Flüchtlinge war das für Volkstheater-Intendantin Anna Badora ein zu heißes Eisen: Homohalal wurde bereits vor der Uraufführung abgesetzt. In der Pegidahochburg Dresden wurde es später ohne Störungen auf die Bühne gehievt.

Aus nachvollziehbaren Gründen: Denn obwohl Ibrahim Amir in seinen Stücken brisante Themen aufgreift, ist sein Tonfall unangestrengt und ironisch grundiert – und sind seine Figuren von den Widersprüchen und Aporien der Gegenwart durchzogen.

Ohnmacht des Kurdenkämpfers

Eine Linsensuppe zum Frühstück? Da muss sich der gestandene Neo-Revolutionär Michael (Peter Fasching) übergeben. Der Finger am Drücker? Da fällt der junge Kurdenkämpfer in Ohnmacht. Ob er ein Opfer von Zwangsstörungen sei oder ob er am Helfersyndrom leide, fragt ihn der schlagfertige blinde Kaua, den Sebastian Pass schön schnoddrig anlegt. Zu Hause in Wien wartet die Mutter (Claudia Sabitzer) in dicken Wollsocken auf den verlorenen Sohn. Der aber hat sich schon längst in seine Kommandantin (Isabella Knöll) verliebt und seinen Reisepass gegen ein Plätzchen am revolutionären Lagerfeuer eingetauscht.

Dort spielt im Wiener Volkstheater ein von Frauen dominiertes "Mini-Orkestar" auf. Zu kurdischen Klarinettenklängen probiert der naive Freiheitskämpfer erste Tanzschritte. Eine adäquate Ethnokulisse hat den Kampfgeist von Revolutionären schon immer beflügelt. Das war in Nicaragua oder Kuba nicht anders als jetzt, im wildgewordenen, aber manchmal etwas zu mild gezeichneten Kurdistan von Uraufführungsregisseur Sandy Lopicic.

Über weite Strecken trägt die Musik in seiner Inszenierung die Handlung. Das trifft die Stimmung des Texts nicht immer. Erzählt Michael seiner Mutter von seinen revolutionär-romantischen Abenteuern, werden freche Comics auf die Bühne projiziert. In diesen Momenten ist die Inszenierung näher am Stück.

Die Visionen und die Klischees, das Lapidare und die Ironie, das Autochthone und das Fremde hält Ibrahim Amir in Rojava nämlich in wunderbarer Balance. Hier verhandelt jemand jene Bruchlinien der Gegenwart, vor der sich viele andere zeitgenössische Dramatiker drücken. Im Volkstheater hätte man sich einen frecheren, ungehobelteren Zugang gewünscht. Sehenswert ist der Abend aber allemal. (Stephan Hilpold, 1.3.2019)