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Der Osten der Ukraine leidet unter den Folgen des Krieges. Viele können sich nur das Nötigste leisten – oder nicht einmal das.

Foto: AP / Evgeniy Maloletka

Langsam schiebt sich die Menschenmenge am Grenzübergang Stanyzja Luhanska zwischen Ukraine und Separatistengebiet voran. Plötzlich gibt es Zoff: "Jetzt, wo Journalisten da sind, geht es auf einmal vorwärts, vorher haben sie uns endlos warten lassen. Eine Unverschämtheit, so das eigene Volk zu schikanieren", schimpft eine ältere Frau. Bis zu zehn Stunden müssten sie manchmal in der Schlange ausharren und würden dann doch teilweise am Schalter zurückgewiesen, wendet sie sich an die Korrespondenten. "Unsinn, Sie sind doch nur auf Stimmungsmache aus", widerspricht ein ukrainischer Soldat. Doch die resolute Dame lässt sich nicht einschüchtern. Sie geht einen Schritt auf den Uniformierten zu und schimpft weiter. Sie lüge nicht, das sei im Sommer gewesen, versichert sie. Der Mann winkt ab, und die Journalisten gehen weiter. Die Menge bleibt dahinter zurück.

Stanyzja Luhanska ist der einzige Übergang in der ostukrainischen Region Luhansk und einer von sieben Übergängen entlang der sogenannten Kontaktlinie zwischen der von Kiew kontrollierten Ukraine und den Separatistengebieten. Pro Jahr müssen sich zwölf Millionen Menschen durch diese sieben Nadelöhre zwängen, um auf die jeweils andere Seite der Front zu gelangen.

Einer davon ist Waleri. Auf Krücken humpelt der Einbeinige über die zwei Kilometer lange Brücke. Autos kommen hier nicht durch. Er will zu Mutter und Schwester in Krasnodon in der von prorussischen Separatisten beherrschten "Luhansker Volksrepublik" (LVR). "Ich habe nur ein Bein, aber meiner 1935 geborenen Mutter gehorchen beide Beine nicht mehr", sagt der Afghanistan-Veteran. So macht er sich auf den beschwerlichen und gefährlichen Weg, um sie zu besuchen und aufzuheitern, "auch wenn ich ihr in meinem Zustand kaum helfen kann".

Afghanistan-Veteran Waleri besucht regelmäßig Mutter und Schwester. Den gefährlichen Weg kann er nur noch mühsam bewältigen.
Foto: André Ballin

Die meisten Wartenden, Rentner aus der LVR, wollen in die andere Richtung. Einmal alle zwei Monate müssen sie in die Ukraine reisen, um ihre Rente zu bekommen. Ansonsten verlieren sie ihren Pensionsanspruch und müssen ihn neu beantragen. "Also musst du rüber: ob du kannst oder nicht; notfalls kriechst du rüber", sagt die Rentnerin Jekaterina Iwanowna. Auch wenn sich die bewaffneten Zwischenfälle hier wieder häufen. Waren es im Dezember noch 17, so wurden im Jänner rund 40 und im Februar mehr als 60 gemeldet. Trotzdem machen sich die Menschen auf den Weg. Sei es wegen der Rente, oder um einzukaufen. In den selbsternannten "Volksrepubliken" sind die Preise trotz bitterer Armut viel höher als auf der Gegenseite.

Dabei sei die Qualität wegen der Versorgungsengpässe schlechter, weiß Vitali Swistula. Er ist geschäftsführender Direktor der Hilfsorganisation Miloserdije, einer Partnerorganisation der Caritas im Donbass-Gebiet. "Hätte mir vor zehn Jahren jemand gesagt, dass ich mich einmal mit Wohltätigkeit befassen werde, hätte ich ihm nicht geglaubt", sagt er. Bis zum Krieg hat der rothaarige Mittdreißiger in Luhansk als Manager bei der Raiffeisenbank gearbeitet. "Ich hatte einen guten Job", erinnert er sich. Doch dann musste er Hals über Kopf die Sachen packen. Zuerst schickte er die Familie aus dem Kriegsgebiet, im Sommer floh er selbst. "Ich habe den letzten Zug genommen", sagt er. Inzwischen ist der Bahnverkehr eingestellt.

Flüchtlinge im eigenen Land

Swistula musste wie viele der 1,5 Millionen Binnenflüchtlinge sein Leben komplett neu aufbauen. Der Versuch, in Kiew bei der Bank zu arbeiten, scheiterte. Der Zustrom qualifizierter Kader drückte die Löhne. "Das Gehalt dort hätte gerade einmal zum Zahlen der Miete gereicht", erinnert er sich. Also ging er in den Donbass zurück und übernahm das Management bei Miloserdije. Die Organisation musste ebenfalls aus Luhansk fliehen. Eine Zusammenarbeit mit den Machthabern dort war unmöglich. Auch die Caritas hat wegen der unsicheren Lage ihre Arbeit in den Separatistengebieten im vergangenen Sommer vorerst eingestellt.

Hilfsbedarf gibt es auch auf der ukrainisch kontrollierten Seite der Pufferzone genug. Die Ukraine war schon vor dem Konflikt 2014 eines der ärmsten Länder Europas. Das Elend speziell im Donbass ist durch die Kriegshandlungen weiter gewachsen. Wer fliehen konnte, ist geflohen. Zurückgeblieben sind Alte und sozial Schwache. 3,5 Millionen Menschen sind inzwischen auf humanitäre Hilfe angewiesen.

Die siebenjährige Anja lebt bei ihren Großeltern. Die Familie ist auf finanzielle Hilfe angewiesen.
Foto: André Ballin

Dazu gehört auch Anja. Die Siebenjährige leidet an spastischer Lähmung, hat gerade erst gelernt, auf wackligen Beinen zu gehen. Eine Sozialarbeiterin von Miloserdije hilft ihr zudem beim Sprechenlernen. Die Mutter hat die behinderte Tochter verlassen. Der Vater, der die Kleine versorgte, musste nach Polen zur Arbeit, um Geld für den Lebensunterhalt und die Reha zu verdienen. So ist Anja bei den Großeltern geblieben. Zusammen bekommen sie 140 Euro Rente. Ohne Lebensmittel und Medikamente der Caritas kämen sie nicht über die Runden, bestätigt Opa Jakow. Er sei dankbar dafür, und doch "ist es bis ins tiefste Innere schmerzlich, dass wir auf Hilfe aus Österreich angewiesen sind", sagt er. "Obwohl wir doch ein so viel größeres und damit auch reicheres Land sein sollten." (André Ballin, 2.3.2019)