Während andere den Rechtsruck als unabwendbare Naturgewalt darstellen, ruft er die Linke auf, an ihre eigene Mehrheitsfähigkeit zu glauben: Oliver Scheiber.

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Sein Manifest bietet zehn Vorschläge zur Rettung der Sozialdemokratie – und zehn Vorschläge für einen sicheren Tod derselben.

In allen Stadtvierteln wird es Ruhezonen mit Gratisinternet geben, mit kleinen Bibliotheken, die alle nutzen können. Familien mit niedrigeren Einkommen bekommen von der Stadt zwei Wochen Urlaub finanziert. Die Stadt richtet Gesprächsforen an öffentlichen Plätzen, in großen U-Bahn-Stationen ein, wo Menschen sich treffen und diskutieren, wie die Stadt verbessert werden kann: Es sind Fantasiebilder eines guten Lebens für alle, die der Wiener Jurist Oliver Scheiber in konkrete Vorschläge verpackt. Abgedruckt sind sie in einem kleinen, leicht lesbaren und eindringlich formulierten Manifest namens Sozialdemokratie: Letzter Aufruf!

Glaube an ein besseres Morgen

Was aber haben Freizeitzonen und U-Bahn-Talks mit dem Wesen der Sozialdemokratie zu tun? Sehr viel, meint der 50-jährige Jurist: Dass Wien heute eine der sichersten und lebenswertesten Städte der Welt ist, sei dem sozialdemokratischen Glauben an ein besseres Leben für alle zu verdanken. Dieser Glaube sei der SPÖ, aber auch anderen linken Bewegungen abhandengekommen. Nun sei es allerhöchste Zeit, das Ruder herumzureißen, bevor es zu spät sei: In Zeiten, da halb Europa von autoritären Gruppierungen erobert wird, sei Abwarten keine Option, sagt Scheiber – weil sich "jede/r mitschuldig macht, der jetzt nicht um die Erhaltung von Demokratie, Solidarität und Menschenrechten kämpft". Sonst drohten Rechtsextreme und ihre konservativen Steigbügelhalter Europa in einen "unumkehrbaren Destabilisierungsprozess" zu führen.

Scheiber, der seit zehn Jahren das Bezirksgericht Meidling leitet und zuvor Kabinettsmitarbeiter von Justizministerin Maria Berger (SPÖ) und Justizattaché in Brüssel war, ist in der Justiz alles andere als ein Unbekannter. Seit Jahrzehnten kämpft er an mehreren Fronten für eine Humanisierung der Justiz und wird dafür auch weit über das eigene ideologische Lager hinaus geschätzt. An Unis lehrt er Menschenrechte und setzte durch, dass künftige Richter mit der Verantwortung der österreichischen Justiz im und nach dem Nationalsozialismus bekanntgemacht werden. Als das ganze Land über eine "Flüchtlingskrise" in Österreich diskutierte, organisierte er Praktika für nach Österreich geflüchtete Juristen. Er widmet seine Freizeit mehreren Menschenrechtsinitiativen, öffnet das Gerichtsgebäude auch abends für Talks, Ausstellungseröffnungen und Vorträge. Er meldet sich immer wieder mit justizkritischen Gastkommentaren zu Wort, die unter Richtern, Staatsanwälten und in der Justizpolitik teils für heftige Diskussionen sorgen. Die Anfeindungen, die er dafür aus konservativen Justizkreisen kassiert, ließen ihn nicht verstummen, der Rechtsruck in Europa hingegen ließ seine Kritik direkter und allumfassender werden. Was zuvor Justizkritik war, ist jetzt ein Mahnruf, die gesamte Gesellschaft vor einem Abdriften in Entsolidarisierung und Autoritarismus zu retten.

Politik gegen Schwache schadet allen

Als Strafrichter trifft Scheiber auf Menschen, die oft schon vor dem Erwachsenenalter als gescheiterte Existenzen gelten. Entgegen dem Trend, der die Verantwortung dafür allein dem Individuum und seiner Familie zuweist, nimmt Scheiber die Politik in die Pflicht. Ihre Aufgabe sei es, den Zufall, ob man in ein armes oder reiches Elternhaus oder Land geboren ist, nicht zum bestimmenden Faktor einer Biografie werden zu lassen – sondern vielmehr die Ungleichheit, in die wir geboren werden, auszugleichen, schreibt Scheiber in den Vorbemerkungen zum Buch. Die Erosion des solidarischen Miteinanders schade nicht nur den Schwachen, sondern allen.

Diese Gefahr abzuwenden sei die Aufgabe der linken Bewegungen, sagt Scheiber. Die Linke müsse endlich wieder an ihre eigene Mehrheitsfähigkeit glauben und alles tun, um diese zu erreichen. Der Jurist liefert zehn Vorschläge dafür – und stellt ihnen zehn Schritte auf dem "Weg in den Tod" der Sozialdemokratie entgegen. Rechtspopulisten nachzueifern und Migration als Problem zu sehen sei ein Irrweg. "Die Linke muss für Vielfalt, Buntheit, Freiheit werben", für Mehrfachstaatsbürgerschaften und Partizipation. Denn das, ist Scheiber überzeugt, sei "erklärbar". (Maria Sterkl, 5.3.2019)