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Forensiker untersuchen den Tatort im Osten Londons, wo am Samstag eine 17-jährige Jugendliche erstochen wurde.

Foto: AP / Victoria Jones

Nach harscher Kritik von Opposition und Polizei hat die britische Premierministerin Theresa May die Bekämpfung der Epidemie von Gewaltverbrechen mit Messern zur Chefsache erklärt. Sie werde binnen weniger Tage ein Krisentreffen mit Ministern und zuständigen Behördenleitern einberufen, sagte die Regierungschefin am Mittwoch im Unterhaus: "Wir müssen den Ursachen auf den Grund gehen."

Die Öffentlichkeit wird seit Monaten durch immer neue Schlagzeilen über Messermorde aufgeschreckt. Im vergangenen Jahr wurden in England und Wales (Schottland und Nordirland erheben je eigene Statistiken) 285 Menschen erstochen, so viele wie noch nie seit Ende des Zweiten Weltkrieges. Zwei Straftaten vom Wochenende haben das Land aufgewühlt, wohl nicht zuletzt deshalb, weil die beiden Opfer ein 17-jähriges Mädchen und der gleichaltrige Schüler einer teuren Privatschule waren.

Stich ins Herz

Yousef Makki wurde am frühen Samstagabend nahe seinem Elternhaus bei Altrincham von zwei 17-Jährigen angegriffen; beide mutmaßliche Täter sind in Haft. Wenig später am gleichen Abend starb Jodie Chesney in einem Park von Romford bei London. Sie hatte mit Freunden Musik gehört, als zwei junge Männer – offenbar ohne Anlass – sich der Gruppe näherten und der Täter der 17-Jährigen von hinten einen einzigen Stich ins Herz versetzte.

Dem Innenministerium zufolge hat sich die Zahl minderjähriger Straftäter, die ihre Opfer mit Messern bedrohten, binnen zwei Jahren um 53 Prozent erhöht. Das nationale Gesundheitssystem NHS verzeichnete binnen fünf Jahren eine Verdoppelung von Kindern und Jugendlichen unter 16 Jahren, die wegen Stichwunden behandelt werden mussten.

20.000 Polizeistellen eingespart

Seit May als damalige Innenministerin der konservativ-liberalen Koalition 2010 das Ruder übernommen hatte, stehen den Polizeibehörden von England und Wales real 19 Prozent weniger Mittel zur Verfügung. Mehr als 20.000 Stellen wurden eingespart. Mittlerweile hat die konservative Minderheitsregierung das Steuer herumgerissen und den Verbrechensbekämpfern bis zu 970 Millionen Pfund (1,1 Milliarden Euro) mehr Geld zur Verfügung gestellt. Damit lassen sich 3.000 zusätzliche Streifenbeamte finanzieren. In der Kabinettssitzung am Dienstag verlangte Innenminister Sajid Javid zusätzliche Mittel von Finanz minister Philip Hammond, was dieser unter dem Protest anderer Ressortkolleginnen ablehnte.

Der Zusammenhang zwischen der Zahl von Polizeibeamten insgesamt und Gewaltverbrechen sei keineswegs eindeutig, beteuerte May in einem Fernsehinterview zu Wochenbeginn. Das brachte der Regierungschefin verbale Prügel von vielen Seiten ein. Zu Wort meldeten sich die beiden höchsten Polizeibeamtinnen des Landes. "Natürlich" gebe es den Zusammenhang, teilte Londons Polizeipräsidentin Cressida Dick mit. Die Koordinatorin der Polizeipräsidenten des Landes, Sara Thornton, forderte mehr Geld und betonte: "Wir brauchen eine viel klarere Führung durch die Regierung."

Stigmatisierung durch Stop & Search

Javid scharte am Mittwoch die Polizeipräsidenten der größten Städte um sich. Binnen drei Tagen wolle er genaue Zahlen darüber haben, welche zusätzlichen Mittel die Verantwortlichen zur besseren Bekämpfung der Gewaltkriminalität für notwendig halten, sagte der Minister. Daneben müsse man aber auch über andere Ursachen sprechen.

Dazu zählt peinlicherweise ein anderes Erbe aus Mays Amtszeit: 2014 hatte die Konservative die Polizeibehörden angewiesen, weniger häufig schwarze Jugendliche auf der Straße anzuhalten und zu kontrollieren. Diese Praxis, das sogenannte "stop & search", sehen Praktiker als wichtiges Instrument der Prävention; bei vielen Angehörigen ethnischer Minderheiten gilt es als verhasstes Symbol einer Stigmatisierung durch die Mehrheitsgesellschaft.

Geringe Aufstiegschancen

Allerdings sprechen die Zahlen dafür, dass unter Opfern wie Tätern Menschen mit dunkler Hautfarbe überproportional stark vertreten sind. Soziologen machen dafür die vergleichbar höhere Armut und geringere soziale Aufstiegschancen verantwortlich. Labour-Oppositionsführer Jeremy Corbyn wies im Unterhaus darauf hin, dass die Kommunalverwaltungen in den vergangenen Jahren wegen Budgetkürzungen 3.500 Jugendarbeiter entlassen und mehr als 600 Jugendzentren schließen mussten.

Lord John Stevens war zu Beginn des Jahrhunderts Londons Polizeipräsident und damals Teil eines Krisenstabes unter Labour-Premier Tony Blair. Mit Entschlossenheit und der ausreichenden Zahl von Polizisten könne man die Situation binnen sechs bis zwölf Monaten unter Kontrolle bringen, lautet die Prognose des mittlerweile 76-Jährigen. Allerdings habe er gewisse Bedenken bezüglich der Premierministerin: "Sie hört nicht zu." (Sebastian Borger, 7.3.2019)