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Nils Pickert: "Alle haben eine Identität".

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Fühlen Sie sich von den absurden Forderungen irgendwelcher Minderheiten bedroht? Sind Sie es auch leid, dass kleine Gruppen mit lautem Getöse ihren Willen durchsetzen, obwohl eigentlich niemand damit etwas anfangen kann? Dann haben Sie sich vermutlich einem neuen Volkssport angeschlossen, der seit einiger Zeit anscheinend immer mehr Zulauf findet. Besonders an so neuralgischen Punkten des zivilgesellschaftlichen Zusammenlebens wie Karneval meinen viele Leute, dass sie jetzt aber mal wirklich genug von diesem ganzen politisch korrekten Kram hätten und gerne einfach so wie früher feiern dürfen. Annegret Kramp-Karrenbauer, die neue Parteichefin der CDU, hat das in den letzten Tagen für alle zur Ansicht durchexerziert. "Das verkrampfteste Volk der Welt seien die Deutschen geworden", hat sie bei ihrer Aschermittwochrede attestiert. Weil man sich mitten im Karneval plötzlich weigert, einen Witz richtig zu verstehen, und die ersten Kindergärten damit begonnen haben, Indianerkostüme zu verbieten.

Wir lassen uns Karneval nicht nehmen

Grundsätzlich ist nichts dagegen einzuwenden, den Deutschen Verkrampftheit zu unterstellen. Meine Landleute und ich gelten mit einigem Recht nicht gerade als die hipste und entspannteste Nation, die man sich so vorstellen kann – sind aber dabei ziemlich erfolgreich. Allerdings sollte dieser Vorwurf auch wohlverdient sein. Und das ist er in diesem Fall nicht. Stattdessen besteht das Krampfige gerade darin, wie die Mehrheitsgesellschaft mit Minderheiten umgeht. Die Tatsache, dass in ein paar Medien und Diskussionsrunden darüber debattiert wurde, ob es nicht die Aufgabe von Satire und Humor sein sollte, nach oben statt nach unten zu treten, macht noch keinen humoristischen Staatsstreich.

Karneval wird nicht abgeschafft, wir lassen uns das Schunkeln nicht wegnehmen, Kramp-Karrenbauer wird weiterhin Witze über Unisextoiletten, im Sitzen pinkelnde Männer und das machen können, was sie etwas unbedarft "das dritte Geschlecht" nennt. Und was in der Boulevardpresse als um sich greifende Kostümverbote bezeichnet wurde, stellt sich bei näherer Betrachtung als Bitte einiger weniger Kitas an Eltern heraus, deren Nichterfüllung keinerlei Konsequenzen nach sich gezogen hätte.

Wichtiges Mittel für marginalisierte Gruppen

Die Anmerkungen, Ansprüche und Partikularinteressen von Minderheiten werden nicht nur in diesem Zusammenhang seit einiger Zeit als bewusster Störungsversuch vom Ablauf des Gesellschaftsbetriebes gedeutet. Dieser Trend ist wie so viele andere aus den USA zu uns herübergeschwappt und arbeitet sich an dem Schlüsselbegriff der Identitätspolitik ab. Identitätspolitik bezeichnet ein politisches Handeln, das die Interessen von spezifischen Gruppen in den Blick nimmt. Seit einigen Jahrzehnten ist sie ein wichtiges Mittel für marginalisierte Gruppen, um auf strukturelle Diskriminierung aufmerksam zu machen und politische Forderungen zu erheben. Seit einigen Jahren gilt sie vielen allerdings als die Pest.

Uninformierte Kritik an Identitätspolitik tut gerne so, als würden marginalisierte Gruppen nur vorgeben, marginalisiert zu sein, um sich einen Vorteil zu erschleichen. Beispielhaft dafür steht das Herbeifaseln eines Linksrucks,

das historisch betrachtet interessanterweise vor allem dazu dient, einen Rechtsruck zu legitimieren. Informiertere Kritik verweist auf das abspaltende, narzisstische Potenzial dieser Politik hin, die nur um sich selbst kreist und Identität zu einem Argument erklärt, obwohl es das nicht ist.

Die Identitätspolitik der Mehrheitsgesellschaft

Aber eben nicht ausreichend informiert. Denn zum einen ist die Identitätspolitik von Marginalisierten nur die Reaktion darauf, dass ihre Identität immer zum Argument gemacht und gegen sie verwendet wurde. Zum anderen haben alle eine Identität. Man kann nicht nicht Identitätspolitik betreiben. Identitätspolitik beginnt nicht etwa erst dann, wenn Menschen dafür kämpfen, dass Österreich in der Bundeshymne auch ausdrücklich die Heimat großer Söhne und Töchter ist. Stattdessen hat sie sich zuvor in dem Umstand ausgedrückt, dass Töchter nicht erwähnt wurden.

Die hegemoniale Mehrheitsgesellschaft macht Identitätspolitik, nennt es selbstgefällig Politik für alle und reagiert belästigt, wenn Minderheiten eine Politik für sich einfordern, die Ausgrenzung und Unterprivilegierung beendet. Dass Identitätspolitik also mitnichten der Weisheit letzter Schluss sein muss, zeigt sich schon darin, wie sie gegen Minderheiten verwendet wurde und wird. Trotzdem ist es gut, dass sie von Minderheiten weiter gegen die Mehrheit ins Feld geführt wird. Weil sie denen eine Stimme gibt, die zu lange ignoriert und zum Schweigen gebracht wurden. (Nils Pickert, 10.3.2019)