In wenigen Jahrzehnten könnten 40 Prozent aller Insektenarten ausgestorben sein, speziell Schmetterlinge, Bienen und Käfer.

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Während Greta Thunberg und Zehntausende von Schülerinnen und Schülern auf den Fridays-for-Future-Märschen demonstrieren, wie erwachsen die Jugend im Vergleich zu den regierenden Eliten ist, generiert die direkte Demokratie in Bayern Hoffnung.

Im Vorjahr war zunächst eine Volksinitiative in München zur vorzeitigen Stilllegung eines Kohlekraftwerks erfolgreich. (Angela Merkel hat in einem Videopodcast die jugendlichen Klimaschutz demos als "sehr gute Initiative" begrüßt, um im gleichen Atemzug für Verständnis zu werben, dass die Regierung die Kohlekraftw erke bis 2038 weiterlaufen lassen wird.) Zum anderen wurde das aktuelle bayernweite Volksbegehren für "Artenschutz" ein sensationeller Erfolg: 18,4 Prozent der Wahlbevölkerung strömten in der zweiwöchigen Eintragungsfrist in die Wahllokale, um die Initiative zu unterstützen. Das ist die höchste Beteiligung an einem Volksbegehren in der bayerischen Geschichte. Gefordert wird die mittelfristige Ausweitung der biologischen Landwirtschaft auf 30 Prozent der Fläche, die Reduktion von Pesti ziden und chemischen Düngern sowie ein flächendeckender Biotopverbund.

Gefährlichstes Problem

Die Wissenschaft gibt der Initiative recht. Der Klimawandel wird, bei aller Dramatik, nur als das viertbedrohlichste globale Umweltproblem gewertet. Das Gefährlichste ist der Verlust der Artenvielfalt. Zwei jüngst erschienene Studien bestätigen auf alarmierende Weise diesen Trend. Im Februar erschien an den Universitäten Sydney und Peking eine Metastudie aller 73 Langzeitstudien zur Entwicklung der Artenvielfalt und Biomasse von Insekten, die einen jährlichen Schwund um 2,5 Prozent feststellte. In wenigen Jahrzehnten könnten 40 Prozent aller Insektenarten ausgestorben sein, speziell Schmetterlinge, Bienen und Käfer, was "katastrophale Auswirkungen" haben könnte, "weil Insekten das Fundament vieler Ökosysteme dieser Welt darstellen", so die im New Scientist vorgestellte Studie.

Eine zweite Studie zu Deutschland von der Gesellschaft für Entomologie Krefeld hat Biomassemessungen von fliegenden Insekten in 63 Naturschutzgebieten landesweit im Zeitraum 1989 bis 2016 durchgeführt, mit dem ebenfalls schockierenden Ergebnis eines Rückgangs der Biomasse um 76 Prozent, in der Sommerspitze sogar um 82 Prozent. Das ist nicht zuletzt deshalb so bedrohlich, weil 80 Prozent aller Wildpflanzen weltweit von der Bestäubung durch Insekten abhängig sind, 60 Prozent aller Vögel dienen Insekten als Nahrungsgrundlage.

Fünfter Erfolg

Nach der Bekanntgabe des offiziellen Abstimmungsergebnisses am 14. März hat der Bayerische Landtag drei Monate Zeit, über die Initiative zu entscheiden. Stimmt er mehrheitlich für den Gesetzesvorschlag, wird er umgesetzt. Stimmt er dagegen, kommt es innert weiterer drei Monate zur Volksabstimmung, deren Ergebnis bindend ist. Der Landtag kann allerdings einen Alternativentwurf mit zur Abstimmung bringen. Bisher führten vier der sechs seit 1946 in Bayern gestarteten Volksbegehren zu einer Abstimmung, die alle vom Souverän mehrheitlich angenommen wurden: ein Gesetz zur Stärkung der direkten Demokratie in Kommunen und Landkreisen, die Rundfunkfreiheit, die Abschaffung des Senats sowie die Stärkung des Nichtraucherschutzes. Sollte der Landtag dem Entwurf nicht stattgeben, hat das Begehren "Artenschutz" alle Chancen, zum fünften Erfolg der direkten Demokratie in Bayern zu werden.

Vor dem globalen Panorama wäre es angebracht, sowohl den Klimaschutz als auch die Biodiversität in der Verfassung zu stärken – und nicht den Standortschutz und das BIP-Wachstum, wie es die Regierung vorhat. Es ist ein großes Glück, dass die Neos sich bisher nicht als politische Helferlein der Verfassungsänderung hergegeben haben. Eine Kraft der Demokratie würde hier nicht taktieren, sondern grundsätzlich agieren: Staatsziele sollten nur vom Souverän geändert werden dürfen, also von der Bevölkerung. Die Bundesverfassung sieht ohnehin vor, dass grundlegende Verfassungsänderungen nur per Volksabstimmung vorgenommen werden dürfen. Warum eine Staatszieländerung keine Grundsatzänderung ist, konnte bisher nicht einleuchtend argumentiert werden.

Die Argumente lägen auf dem Tisch: In Deutschland erfragten Umweltministerium und Umweltbundesamt von der Bevölkerung die Zustimmung zur Aussage: "Wir brauchen in Zukunft mehr Wirtschaftswachstum, auch wenn das die Umwelt belastet." Voll und ganz taten dies drei Prozent! Zusammen mit den "eher" Zustimmenden kroch der Wert auf 18 Prozent. Hingegen stimmten 67 Prozent der Aussage zu: "Statt des Wirtschaftswachstums (Steigerung Bruttosozialprodukt) wird die Lebenszufriedenheit der Menschen (‚Bruttosozialglück‘) zum wichtigsten Ziel der Wirtschafts- und Sozialpolitik. Alle anderen Politikziele werden dem untergeordnet."

Vertrauen der Bürger als Bindemittel

Eine Umfrage in Großbritannien ergab für das Bruttoinlandsprodukt ähnlich negative Werte. Sollte sich die Regierung mit "ihrem" Ziel durchsetzen, wäre das nicht nur eine schwere Niederlage der Demokratie, sondern Österreich würde zum ersten Land der Welt, das BIP-Wachstum in der Verfassung verankert! Der Plan der Regierung, Klimaschutz und Artenvielfalt über oktroyierte Staatsziele zu schwächen, ist ein guter Anlass, die Stärkung der Souveränsrechte in Österreich einzufordern.

Gleiches gilt für die EU-Ebene. Würde das aktuell schwache Instrument der Europäischen Bürgerinitiative bei Übertreffen der Millionenschwelle zu EU-weiten Referenden führen, hätten vermutlich die Freihandelsverträge mit Kanada und Japan (Ceta und Jefta) gestoppt werden können, Glyphosat wäre gebannt worden und die Finanztransaktionssteuer wäre ebenso eingeführt worden wie eine einheitliche Konzernbesteuerung.

Das Wichtigste aber: Der progressiven Desintegrationstendenz in der Europäischen Union wäre ein starkes Bindemittel entgegengesetzt worden: das Vertrauen der Bürger in ein Projekt, das sie aktiv mitgestalten können. (Christian Felber, 10.3.2019)