1985 veröffentlichte Tom Waits mit dem Album Rain Dogs seine wahrscheinlich beste Arbeit.

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Woran man ein Meisterwerk erkennt? Es passt in keine Schublade. Das klingt gut, stimmt aber nicht. Natürlich gibt es in jedem Fach herausragende Arbeiten. Im Fall von Tom Waits' Rain Dogs soll diese Behauptung bloß ein wenig die Hilflosigkeit illustrieren, dieses Album zuzuordnen. Es ist nicht Jazz, nicht Blues, nicht Rock oder Funeral Brass – es ist all das und mehr, aber in Dosierungen und Mixturen, die es so vorher und nachher nicht gegeben hat. Stimmt auch nicht ganz.

Waits hatte schon mit Swordfishtrombones zwei Jahre vorher diese Richtung eingeschlagen. Rain Dogs ohne diesen siamesischen Vorgänger zu besprechen ist schwierig, denn Swordfishtrombones zeigte bereits, dass der sich bis dahin als eingelegter Vier-Uhr-Früh-Barsänger wohlfühlende Tom Waits dabei war, über diese Rolle hinauszuwachsen. Waits, damals Mitte 30, wurde ein Star. Genauer: ein berühmter Antistar, der sehr, sehr seltsame Musik produzierte, wunderbar geheimnisvolle Musik.

Das Lied über die Nachbarschaft

Kurzer autobiografischer Einschub: Das erste Lied, das ich von Tom Waits je gehört habe, war In the Neighborhood. In der Ö3-Musicbox, als das Lied stellvertretend für das ganze Album im Jahresrückblick aus dem Radio tönte. In der Sekunde war klar, das ist außergewöhnlich. Etwas, das ich Kaulquappe noch nicht gehört hatte, ein Instant Fix.

In the Neighborhood kommt wie ein Trauermarsch daher. Dem Lied ist die Melancholie ebenso eingeschrieben wie eine Erhabenheit, die sich über Zeit und Moden erhebt, etwas nachgerade Universelles besitzt.

Einbeinige und Messerwerfer

Inszeniert hat Waits sich dafür als Anführer einer Sideshow, also einer jener Jahrmarktaufführungen, die es bis weit ins 20. Jahrhundert hinein vornehmlich in ländlichen Gegenden der USA gab. Ein bunter Haufen von Kleingewachsenen, Einbeinigen, Schlangenmenschen, Messerwerfern – das volle Programm. Es ist instrumentiert mit Glockenspiel und Triangel, Tuba und Quetsche, windschief und doch unendlich würdevoll.

Schon Swordfishtrombones war ein Meisterwerk, das mit Songs wie 16 Shells From a Thirty-Ought-Six oder Down, Down, Down echte Killer parat hielt. Down, Down, Down wirkt wie ein Wegweiser, und Waits klingt dabei wie ein bleicher Cousin des Howlin' Wolf.

Down, Down, Down. Wenn es daran was zu bemängeln gibt, dann dass der Song zu kurz ist.
TableTopJoe

Das 1985 erschienene Rain Dogs perfektionierte diese eingeschlagene Richtung, leuchtete sie mit schwachen Funsen aus, schuf ein stimmiges Setting. Wobei, wenn man von Perfektion spricht, gehört gesagt, dass Waits bloß die Gefühligkeit seiner Lieder veredelte. Die Mittel durften, ja, mussten weiterhin rumpeln, hinken und hatschen, sollten Schmutz und Trägheit ansammeln, Flecken am Feinripp zeigen, Löcher in den Schuhsohlen.

Pornokinos und Löcher im Schuh

Rain Dogs ist eine Eloge auf die Außenseiter der Gesellschaft. Auf die Bums, die Obdachlosen, die Hobos und Drifter der großen Städte. Im Fall von Rain Dogs ist es die Stadt New York, dort ist es entstanden. Waits besingt das schmuddelige New York, in dem die Bowery und die Lower East Side für viele noch No-Go-Areas waren, die 42. Straße noch keine Touristenmeile mit Flagship Stores war, sondern eine Ansammlung von Pornokinos, Peepshows und Pfandshops, samt der entsprechenden Kundschaft. Das New York der Mean Streets und des Taxi Driver.

Immer (fast) am Boden. Tom Waits als Gangleader auf der Rückseite des Covers von Rain Dogs.
Foto: Island

Aus diesem Sündenpfuhl versammelte Waits ein paar Aussätzige um sich, die die Musik in seinem Kopf hörbar machen sollten. Er ließ sie Marimba spielen, durch verbeulte Saxofone röcheln, Quetschen langziehen und Orgeltasten drücken. Er selbst rauchte damals noch Kette. Das gab seiner Stimme jene Tönung, die diesen Rinnsal-Balladen ihre Schönheit verleiht.

"Down By Law"

Zu der Runde der Aussätzigen zählten Typen wie John Lurie. Der Chef der Jazz-Zerleger The Lounge Lizards sollte ein Jahr später mit Waits und Roberto Benigni in Jim Jarmushs Film Down By Law eine Hauptrolle spielen. Oder Keith Richards. Der schaute zwischen zwei Blutwäschen vorbei und spielte Gitarre.

Um dem Rolling Stone zu verdeutlichen, was er von ihm erwartete, soll Waits vor ihm einen schrägen Tanz aufgeführt haben. "So sollst du spielen!" – "Alles klar", soll Richards geantwortet haben. Wie das klang, macht der Song Big Black Mariah hörbar oder Union Square. Der emigrierte Punkveteran Chris Spedding war dabei, Marc Ribot, der damals überall mitgespielt hat, Larry Taylor von Canned Heat und gut zwei Dutzend andere.

Tom Waits mit Big Black Mariah, an der Gitarre Keith Richards.
missionofburma31

19 Songs sind so entstanden. Das Album wirkt wie ein Roman. Mit jedem Song beginnt ein neues Kapitel, alles hängt lose zusammen, ohne dass das Korsett eines Konzeptalbums diesem die Luft nehmen würde. Manches klingt verzweifelt, vieles melancholisch, anderes wütend. Der Geruch von Hinterhöfen liegt in der Luft, die Lieder umarmen diesen Dreck und diese Patina, tanzen mit ihm einen betrunkenen Slowfox. Vogelscheuche Waits dirigiert die Schritte.

Am Tropf der Sehnsucht

Miniaturen reihen sich an verbogene Bluesrock-Songs; diese ebnen den Weg für wunderschöne Balladen, und alles hängt mehr oder weniger am Tropf der Sehnsucht. Diese nährt eine enttäuschte Liebe oder der sich nicht und nicht erfüllende American Dream.

Das Halbseidene erhebt in einem Song wie Diamonds & Gold sein Haupt, der Trennungsschmerz in Hang Down Your Head. Das ist der erste Song, den Waits mit seiner heutigen Frau Kathleen Brennan geschrieben hat.

Hang Down Your Head – einer der vielen "Hits" dieses Albums.
DaveTsai

Es ist einer der "Hits" dieses Albums, das heißt, es ist ein etwas konventioneller klingendes Lied, dabei von immenser Wirkung. Gerade diese eher geradlinigen Songs halten das Album so perfekt in Balance. Rain Dogs kippt nie komplett ins Nerdige, wo nur noch stammelnd Nägel gebissen werden und auf leere Weinflaschen geklopft wird. Sie stehen in Kontrast zu Ausbrüchen wie Midtown, einem kleinen Jazz-Freak-out, auf das die Spoken-Word-Nummer 9th & Hennepin folgt.

Lichtschimmer

Downtown Train trägt eine versteckte Hoffnung in sich, etwas Versöhnliches. Mag das Leben in dem Moloch noch so eine Prüfung sein, die Gegensätze zwischen Reich und Arm schreiend ungerecht in ihrer aneinanderklebenden Parallelexistenz, Waits bewahrt sich den Blick für kleine Lichtschimmer im Überlebenskampf.

Eine Vogelscheuche in der Großstadt. Tom Waits im Video zu Downtown Train.
ANTI- Records

Das ergibt eine vergleichslose Kunst und eine bis heute einzigartige Kunstfigur, die noch eine Reihe großer Alben veröffentlicht hat. Swordfishtrombones aber, und noch mehr Rain Dogs, gehören zum Fundament dieses Werks, sind die tragenden Säulen, der Maßstab und zeitlose, wirkmächtige Arbeiten. Dass ihr Schöpfer darüber in einen oft schwer auszuhaltenden Manierismus gekippt ist, sehen wir ihm an guten Tagen gerne nach. (Karl Fluch, 12.3.2019)