Wien – Zumindest nach dem ersten Verhandlungstag gegen einen 69-jährigen Wiener Primar und acht seiner (ehemaligen) Patientinnen und Patienten stellt man sich die Frage, warum die Angeklagten überhaupt mit einem Vorwurf wegen gewerbsmäßigen schweren Betrugs vor einem Schöffensenat unter Vorsitz von Michael Tolstiuk im Großen Schwurgerichtssaal sind. Denn die Staatsanwaltschaft kann im Fall des Psychiaters kein Motiv nennen, warum er angeblich falsche Diagnosen ausgestellt haben sollte, um seinen Mitangeklagten einen früheren Pensionsantritt wegen Arbeitsunfähigkeit ermöglichen zu können.

Die Anklägerin beschränkt sich in ihrem Eröffnungsplädoyer auf die trockenen Fakten: Zwischen 2007 und 2017 sollen die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die allesamt in Serbien geboren sind, ungerechtfertigt von der Pensionsversicherungsanstalt (PVA) Leistungen bezogen haben. In Summe geht es dabei um 813.000 Euro, die ihnen nicht zugestanden wären, wenn der Erstangeklagte ihnen nicht primär psychiatrische Erkrankungen bescheinigt hätte. Gestützt werde die Theorie durch ein Gutachten des psychiatrischen Gerichtssachverständigen Peter Hofmann, der am Mittwoch referieren soll.

Valide Argumente der Verteidigung

Ein Beispiel für die in der politischen Diskussion immer wieder von mancher Seite beschworenen zugewanderten Sozialbetrüger mit Unterstützung eines korrupten Arztes also? Die zahlreichen Verteidigerinnen und Verteidiger bringen durchaus valide Argumente, dass dem nicht so ist, und zerpflücken die Anklage.

Beispielsweise Philipp Wolm, der gemeinsam mit Christian Werner ein Ehepaar vertritt. "Wir haben in Österreich eine Kultur des Vernaderns. Man glaubt dem Wamser mehr als den Unbescholtenen", prangert er den Beginn der Ermittlungen an. Die nahmen nämlich ihren Anfang, als eine "Vertrauensperson" der Polizei, vulgo Informant oder Spitzel, berichtete, in der serbischen Community sei von Geldflüssen an einen Arzt die Rede, der für einen früheren Pensionsantritt sorgen könne. "Trotz umfangreicher Ermittlungen konnte kein einziger Geldfluss nachgewiesen werden", hält Wolms Kollege Werner fest.

Pensionsanstalt prüfte selbstständig

Dass sein Mandant keinen Vorteil von einem Betrug hätte, stellt auch Georg Zanger, Verteidiger des seit Jahrzehnten in leitenden Positionen tätigen erstangeklagten Mediziners, klar. Und überhaupt: "Die PVA hat eigene Ärzte, die Prüfung, ob ein Anspruch vorliegt, obliegt der PVA." Die Betroffenen seien alle bereits beim AMS oder im Krankenstand gewesen, der Primar der Letzte in der Kette, der seine Meinung abgegeben habe. "Warum sollte er da etwas Falsches diagnostizieren?", fragt sich Zanger.

Tatsächlich kann ein weiterer Verteidiger, Philipp Winkler, Seltsames aus dem Akt zitieren. Bei den von ihm und Rudolf Mayer Vertretenen wurde ursprünglich eine befristete Arbeitsunfähigkeit empfohlen. In einem Schreiben an die Polizei teilte die PVA im Sommer 2014 jedoch mit, dass ein PVA-internes Gremium sich für eine unbefristete Lösung entschieden habe. Um Unsummen geht es in keinem der Fälle, wie der Fall eines von Sonja Scheed vertretenen ehemaligen Aufzugstechnikers zeigt: Er lebt von 650 Euro Pension statt von 1.300 Euro Lohn.

Schwelende Konflikte im Hintergrund

Rechtsvertreter Wolm mutmaßt, dass im Hintergrund ein seit Jahrzehnten schwelender politischer Konflikt stehe: Das Arbeitsmarktservice versucht die Kosten für Langzeitarbeitslose aus den eigenen Bilanzen in jene der Pensionsversicherungsanstalt zu überführen, die das verhindern wolle. "Wenn Sie zwei Ärzte haben, haben Sie drei Meinungen", zitiert er den Volksmund. Und er kritisiert die von der Staatsanwaltschaft formulierte Fragestellung an Gerichtsgutachter Hofmann: "Teilweise zehn Jahre nach der ursprünglichen Diagnose sollte der nun herausfinden, ob das damalige Leiden noch vorliegt! Es kann sich ein Zustand aber auch bessern", zweifelt Wolm die Beweiskraft an.

Alle Angeklagten bekennen sich nicht schuldig, der Primar referiert seine schulischen und beruflichen Erfolge und hält fest, dass er und sein Team alleine zwischen 1986 und 2016 über 12.000 Patientinnen und Patienten behandelt hätten. Bei den Mitangeklagten kann er sich teilweise genau an ihre Krankengeschichte erinnern – ein Diabetiker sei beispielsweise nach einem Zuckerschock in eine andere Abteilung gebracht worden, erst dort seien auch psychische Probleme festgestellt worden.

Am Mittwoch wird fortgesetzt. (Michael Möseneder, 11.3.2019)