Wenn in der Schweiz das Volk entscheidet, ist Zuwanderung oft ein Thema. Entgegen obiger SVP-Kampagne wurde die Einbürgerung von Eingewanderten 2017 jedoch erleichtert.

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In Österreich ist es mit der direkten Demokratie nicht weit her: Rechtlich ist sie möglich, seit 1964 wurden aber erst zwei Volksabstimmungen – über das Kernkraftwerk Zwentendorf und den EU-Beitritt – durchgeführt. Die weniger verpflichtenden Volksbegehren kommen immerhin auf 39. Deren Großteil erhielt Zuspruch mit mehr als 100.000 Stimmen, die für eine verpflichtende Besprechung im Nationalrat nötig sind; jene Besprechungen hatten allerdings, vorsichtig gesagt, variablen Erfolg.

Direkte Demokratie bedeutet nun auch nicht zwangsweise eine bessere. Es werden aber immer wieder Stimmen laut, die eine bessere Einbindung von Bürgern in Entscheidungsprozesse fordern.

Zuletzt ließ die EU das Volk per Onlinebefragung über die Zeitumstellung abstimmen, zwar ohne Verpflichtung, das Ergebnis umzusetzen, aber mit dem großen Willen dazu. Die Tendenz zur Bürgerbeteiligung fand sich auch auf dem Symposion Dürnstein mit dem Titel "Demokratie! Zumutung oder Zukunft" wieder, veranstaltet von der Forschungs- und BildungsgesmbH des Landes Niederösterreich (NFB). Vergangene Woche sprachen unter anderem der Soziologe Ueli Mäder und der Rechtswissenschafter René Rhinow über das Thema.

Mindestanforderungen

Beide kommen aus der Schweiz und waren politisch aktiv: Mäder unter anderem als links-grüner Stadtabgeordneter, Rhinow als Ständeratspräsident und Liberalist. Sie führten aus, wie die direkte Demokratie in der Schweiz eingebettet ist und was dabei zu berücksichtigen ist.

Hier liegt bereits der erste Einwand: Für die Schweiz ist der Begriff der "halbdirekten Demokratie" präziser. Dieser beinhaltet, dass es neben dem Parlament – der indirekten Einrichtung der repräsentativen Demokratie – auch direkte Mechanismen wie Referenden und Volksinitiativen gibt. Und von jenen wird regelmäßig Gebrauch gemacht.

Wichtig ist auch, dass bestimmte Mindestanforderungen bestehen, an denen nicht vorbeientschieden werden kann. "Grund- und Menschenrechte gehören zur direkten Demokratie", sagt Mäder, ehemaliger Professor für Soziologie an der Uni Basel. "Rechtsstaat, Gewaltenteilung und der Schutz von Minderheiten sind unabdingbar." Das bleibt nicht immer ohne Konflikte: Die Volksinitiative gegen den Bau von Minaretten aus dem Jahr 2009 war erfolgreich, obwohl die freie Religionsausübung nicht angegriffen werden darf.

Kultur des Konsenses

"Deshalb ist eine Gerichtsbarkeit in Form einer Verfassungskommission und eines Bundesgerichts nötig, die die Übereinstimmung garantiert." Wie hier die Verhältnismäßigkeit beurteilt wird, ist Gegenstand kontroverser Diskussionen. Der Jurist René Rhinow, einst Professor des Fachbereichs öffentliches Recht, ergänzt: "Vieles spricht dafür, dass die direkte Demokratie eine Kultur des Konsenses voraussetzt und Verständnis für Minderheiten." Sie dürfe nicht zu starren Mehrheiten führen, während die Verlierer immer die Gleichen blieben. "Wäre dies der Fall, können Volksabstimmungen auch desintegrierend wirken."

Darüber hinaus stellt sich die Frage, inwiefern das Volk legitim entscheiden kann. "Gibt es eine Komplexitätsgrenze? Alle Stimmbürger müssen eine reelle Chance haben, ihre Meinung bilden zu können", sagt Rhinow. Aber wie sachkundig ist diese? Besonders bei komplexen Themen wie Außen-, Energie- und Währungspolitik sowie bei technologischen Entwicklungen sieht er Schwierigkeiten.

In diesem Zusammenhang könnte man auch den Sinn einer "zweiten Chance" in Bezug auf Volksrechtsentscheide sehen: "Kann in grundlegenden Fragen der Entscheid an einem Wochenende definitiv sein?" Immerhin folgt auf einen abgelehnten Vorschlag oft eine angepasste Zweitauflage, die den gegnerischen Argumenten Rechnung trägt.

Anderes Demokratieverständnis

Bei Volksinitiativen – oder Volksbegehren – wurden bereits Gegenvorschläge angenommen, die vom Parlament ausgearbeitet wurden. Wobei zu erwähnen ist, dass von allen 216 Initiativen, über die seit Ende des 19. Jahrhunderts in der Schweiz abgestimmt wurde, nur 22 ein Ja erhielten. In den vergangenen Jahren handelte es sich dabei vor allem um die Einschränkung von Masseneinwanderung und die Bestrafung und Eindämmung pädophiler Übergriffe.

In Großbritannien gab es in Bezug auf das Brexit-Referendum den Einwand, man könne nicht einfach eine zweite Abstimmung durchführen, da dies demokratiewidrig sei. "Darüber schütteln wir in der Schweiz den Kopf", sagt Rhinow. Das Demokratieverständnis sei dort ein anderes, Entscheide sieht er als Lernprozess: Nach einer Abstimmung kann man auch auf neue Vorlagen und das Ergebnis von Verhandlungen, etwa mit der EU, warten, um die Lage neu einzuschätzen.

Dies ist auch an der "Erfolgsquote" der Schweizer Referenden, die österreichischen Volksabstimmungen entsprechen und eine Verfassungsänderung oder eine Gesetzesvorlage behandeln, abzulesen: Im Gegensatz zu den Initiativen wurden von 426 abgestimmten Referenden immerhin 280 angenommen.

Sozialer Ausgleich

Volksabstimmungen werden aber nicht neutral von im Idealfall gut informierten Bürgern vollzogen. Politmarketing spielt eine wichtige Rolle, Konzerne, die gegenüber der Politik an Einfluss gewinnen, und der wachsende Unterschied zwischen den besonders armen und reichen Teilen der Bevölkerung, kurz: das Geld. "Niedrige Löhne halten mit steigenden Lebenshaltungskosten kaum Schritt", sagt Mäder.

Der soziale Ausgleich ist eine gesellschaftliche Aufgabe, die auch demokratische Prozesse stützt, so Mäder. Denn: "Sozial Benachteiligte ziehen sich oft zurück und verzichten auf demokratische Teilhabe." Letztere ist gerade für direkte Methoden unabdingbar – naheliegenderweise. Dennoch muss die Motivation immer wieder und aus allen Teilen der Bevölkerung aufgebracht werden, damit das System funktioniert.

Können – oder sollen – sich andere Länder trotz aller Schwierigkeiten ein Beispiel an der Schweiz nehmen und verstärkt Mittel der direkten Demokratie nutzen? Die Einschätzung von Rhinow lautet: "Direkte Demokratie setzt eine politische Kultur voraus, die den Ausgleich sucht und den Kompromiss positiv bewertet."

Hier kann die Schweiz auf eine lange Entwicklung zurückblicken, von regionalen Formen in Gemeinden hinauf bis auf die Bundesebene. So müsse sie auch andernorts erst heranwachsen, um erfolgreich zu sein. Dies gelte gerade auch für sogenannte neue Demokratien, in denen derartige Mechanismen nicht verankert sind. "Diese Volksrechte sind nicht einfach exportfähig", sagt Rhinow.

Auf der Ebene kleiner Kommunen gestaltet sich direkte Demokratie auch einfacher, wie Mäder einwendet. Möglichkeiten zur Bürgerbeteiligung bestehen in Bürgerräten, bei denen zufällig ausgewählte Einwohner selbstgewählte Themen diskutieren und eine gemeinsame Stellungnahme erarbeiten, und Gemeindeversammlungen. Wird die Partizipation verstärkt, steigt auch das Potenzial für Direktentscheide auf höherer Ebene. (Julia Sica, 16.3.2019)