Da ist es wieder, dieses kehlige, herzliche Lachen. Der ältere Herr, von dem es kommt, ist gut gekleidet, die Fliege, die er trägt, ist eine Art Markenzeichen geworden: ein Amerikaner, der eben einen Gast aus seiner Geburtsstadt Wien empfangen hat, jener Stadt, die er 1939 wegen der Nazis verlassen musste. Mit feinsinnigem Humor sagte er zur Begrüßung einen seiner wenigen deutschen Sätze: "Ich hoffe, Sie sprechen Deutsch, ich möchte mich mit Ihnen unterhalten." Und gleich darauf ist es so, als würde er kontrollieren, ob der Scherz beim Gegenüber gut ankommt. Natürlich. Das Lachen ist fürwahr ansteckend.

Nobelpreisträger Eric Kandel.
Foto: APA

Ein sonniger Tag in Manhattan im Zuckerman Institute der Columbia University: Das Büro, in dem die Begegnung mit dem 89-jährigen Neurowissenschafter und Nobelpreisträger Eric Kandel stattfindet, ist riesengroß. Der nicht wirklich großgewachsene, eher zierliche Mann, mittlerweile 89 Jahre alt, füllt es dennoch mit seiner Erscheinung aus. Und zwar nicht nur aufgrund seiner Funktion: Kandel ist einer der drei Direktoren dieses Hirnforschungszentrums. Der Journalist hat die deutsche Fassung des neuen Kandel-Buches aus Österreich mitgenommen: "Was ist der Mensch?" lautet der Titel, mit dem der Autor nicht ganz glücklich ist. "Das trifft es nicht." Im Original heißt das Buch "The Disordered Mind" (Farrar, Straus and Giroux, 2018). Das beschreibe viel präziser, wovon das Buch handle: um Störungen im menschlichen Gehirn und darum, was man daraus über die menschliche Natur lernen kann. Immerhin: Die Gestaltung des Covers mit einem Bild von ihm selbst macht Kandel wieder ganz zufrieden. "Viel schöner als das Original", wo der "disordered mind", der gestörte Geist, die verstörte Seele, durch grafische Symbolik dargestellt wird: ein Viereck, das in einem anderen liegt, aber aufgestellt ist. Wie auch immer: Kürzlich wurde das Werk als Wissenschaftsbuch des Jahres in der Kategorie Medizin vom Wissenschaftsministerium gewürdigt. Kandel war nicht zugegen, wird den Wien-Besuch aber wohl demnächst nachholen. (Weitere Gewinner: hier)

Klassifizierung einzelner Erkrankungen

Der Wissenschafter ist geistig agil und fit. Er arbeitet bis zum heutigen Tag in der Forschung, und zwar als Koautor einiger Publikationen des Zuckerman-Instituts. In einem so entstandenen Paper aus dem vergangenen Jahr war von einem Gen die Rede, das bei der Entstehung bipolarer Störungen des Menschen eine zentrale Rolle spielt. "Diese Paper sind natürlich nicht von mir alleine, ich arbeite mit jungen Kollegen zusammen." Wie sieht so ein Arbeitsalltag abseits von Ruhestandfantasien aus? Kandel geht täglich zu Fuß ins Büro und wieder nach Hause. "Es geht darum, aktiv zu bleiben", sagt er und erklärt den Zusammenhang mit altersbedingtem Gedächtnisverlust. Dabei spiele das Hormon Osteocalcin, das knochenbildende Zellen abgeben, eine wichtige Rolle. Also geht er, um weiter nachdenken zu können. Und warum noch arbeiten? "Warum nicht?", gibt er keck zur Antwort.

derStandard.at

Dem menschlichen Gehirn gehört von jeher Kandels Interesse. Für einen gebürtigen Wiener ist die Beschäftigung mit der Psychoanalyse wahrscheinlich logisch. Da war ja ein gewisser Sigmund Freud – und für Kandel, den leidenschaftlichen Kunstsammler, gibt es eine Verbindung zum Werk von Gustav Klimt, die er in dem Buch "Zeitalter der Erkenntnis" 2012 beschreibt. Die Karriere Kandels wurde davon stark beeinflusst: Der Wissenschafter wollte zunächst Psychoanalytiker werden, dann fragte er sich, was wichtig ist in diesem Fach: die Erinnerungen. So kam er zur Hirnforschung und zu der Überlegung, was Gedächtnisleistung überhaupt erst möglich macht: Jene Übertragungen von Signalen zwischen Nervenzellen, für deren Beschreibung er im Jahr 2000 gemeinsam mit Arvid Carlsson und Paul Greengard den Medizin-Nobelpreis erhielt.

Krankheiten des Gehirns

In dem Buch "Was ist der Mensch?" hat sich Kandel nicht damit beschäftigt, wie das Gehirn funktioniert, sondern damit, wie es nicht funktioniert. Ein Kunstgriff, um mehr über das Denkorgan des Menschen und die Bedeutung verschiedener Gene bei unterschiedlichen Prozessen zu erfahren? Der Wissenschafter schreibt im Vorwort: "Die Erforschung von Störungen und Erkrankungen des Gehirns liefert uns heute wie nie zuvor neue Erkenntnisse über die normalen Funktionen (...). Was wir über Autismus, Schizophrenie, Depression und Alzheimer in Erfahrung bringen (...), liefert auch Aufschlüsse über die Neuronenschaltkreise, die an Gedanken, Gefühlen, (Sozial-)Verhalten, Gedächtnis und Kreativität mitwirken."

Wissenschaftsvermittlung

Kandel liebt es, Vorträge zu halten, er mag die Wissenschaftsvermittlung, wie er sagt, findet es schade, dass das in Österreich keine so große Rolle spielt, und erzählt, dass er Kogastgeber der "Brain Series" der Talkshow "Charlie Rose" des Senders PBS war. Die Show wurde mittlerweile wegen der Vorwürfe gegen Rose, acht Frauen sexuell belästigt zu haben, eingestellt.

Fake-News seien ein Problem, dagegen helfe nur Information, sagt Kandel. "Wir müssen die Leute aufklären, sie unterrichten", meint er– und ergänzt: "Deswegen schreibe ich Bücher." Schon in seiner populären Autobiografie "Auf der Suche nach dem Gedächtnis" (2006) hat Kandel seine eigene Geschichte mit seiner Forschung in Verbindung gebracht. Auch diesmal, in "Was ist der Mensch?", meint er mit Blick auf die Nazizeit: "Wie kann eine der kultiviertesten Gesellschaften auf Erden sich so abrupt dem Bösen zuwenden?" Und im Gespräch sagt er mehrfach: "Ich kann den Antisemitismus nicht verstehen. Wie kann man gegen Menschen sein, die Kultur, Gesellschaft und Wissenschaft in so positiver Weise geprägt haben?"

Ein kleiner Ausschnitt von Nervenzellen im menschlichen Gehirn: ein unendlich verflochtenes und noch recht unbekanntes Netzwerk.
Foto: Foto: Science Photo Library

Schnell kommt Kandel auch auf die gegenwärtige politische Weltlage zu sprechen: US-Präsident Donald Trump findet er "schrecklich, er ist aber kein Antisemit". Auch der österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) habe klare Signale gegen den Antisemitismus gesetzt, "obwohl mir persönlich diese Regierung zu rechts ist". Es gebe gegenwärtig wieder zu viele Staaten, die eine eindeutig rechte politische Führung haben, ihr Umgang mit Migranten mache ihm persönlich Sorgen. "So fängt es an."

Der Verantwortung stellen

Insgesamt habe er aber mit den Österreichern Frieden geschlossen. "Es ist besser geworden." Das Land stelle sich der eigenen Geschichte und der daraus resultierenden Verantwortung. "Man hat mich ja vertrieben – aber als ich den Nobelpreis bekam, wollten ihn viele Österreicher für sich reklamieren." Kandel sagt: "Da musste ich einigen erst erklären, dass ich Amerikaner bin."

Ein- bis zweimal im Jahr ist er in Wien, trifft Freunde wie Altbundespräsident Heinz Fischer. Kandels Frau Denise, eine gebürtige Französin, findet Wien wohl auch nicht mehr so "boring" wie früher. Mahner ist der Neurowissenschafter trotz aller Zuneigung geblieben. Bei der Eröffnung des Hauses der Geschichte verlas der Historiker Oliver Rathkolb eine Rede Kandels, der wegen einer Erkrankung verhindert war. Der Nobelpreisträger bezog sich dabei auf Hugo Bettauers berühmtes Buch "Die Stadt ohne Juden" – und sagte den Österreichern, dass sie nach 1945 im Gegensatz zu Deutschland versäumt hätten, vertriebene Juden zurückzuholen. Ein Fehler, den man nie ganz aufholen wird. (Peter Illetschko, 13.3.2019)