STANDARD: Was haben wir in den vergangenen Tagen im britischen Unterhaus erlebt – Chaos oder gelebten Parlamentarismus?

Turner: Es ist doch interessant, dass nun so viele Menschen von Australien bis Argentinien die Debatten im House of Commons verfolgen, die sich sonst nie ihre eigenen Parlamentssitzungen ansehen würden. Zum Teil ist das schon ein Zeichen dafür, dass es im britischen Unterhaus eben noch echte Debatten gibt. Ich habe mich dabei an die Romane von Anthony Trollope (englischer Schriftsteller des 19. Jahrhunderts, Anm.) erinnert gefühlt, die beschreiben, wie furchtbar schwierig es ist, im House of Commons eine Rede zu halten, wo man ständig von vorne und hinten unterbrochen wird. Natürlich kann es dort manchmal auch dramatisch zugehen, ich würde die Bedeutung der Szenen, die wir dort live erlebt haben, aber auch nicht übertreiben.

Abwarten und Tee trinken – angesichts des Interviewtermins um 11.30 Uhr aber nicht English Breakfast Tea, sondern Grüntee.
Foto: Regine Hendrich

STANDARD: Was soll sich denn nach fast drei Jahren des Verhandelns ändern, das die Verschiebung des Brexits rechtfertigt?

Turner: Theresa May hat sehr klar gesagt, dass sie ihren Deal zurück ins Unterhaus bringen will. Dieser Deal ist der einzige, der auf dem Tisch ist, das haben auch die 27 EU-Mitgliedsstaaten klargemacht. Die Premierministerin wird versuchen, genügend Abgeordnete zu überzeugen, dass sie ihn nun unterstützen. Gelingt ihr das, kommt es nur zu einer kurzen Verzögerung, wahrscheinlich um zwei oder drei Monate, damit wir die nötige Gesetzgebung unter Dach und Fach bringen. Frau May hat auch gesagt, dass anderenfalls eine längere Verzögerung nötig sein wird. Und das ist etwas, wovor viele der passioniertesten Brexit-Anhänger Angst haben. Genau das ist ein wichtiger Grund, warum die Premierministerin glaubt, dass viele Leute nun für ihren Deal stimmen werden.

STANDARD: Am Donnerstag hat einer der Redner im Unterhaus, Ian Blackford von der Scottish National Party (SNP), mit einer möglichen Unabhängigkeit Schottlands nach dem Brexit gespielt. Wird das für das Vereinigte Königreich noch zum Problem?

Turner: Wir hatten ja erst vor kurzem ein Referendum über die Unabhängigkeit Schottlands, das mit etwa 55:45 für den Verbleib bei Großbritannien ausgegangen ist. Nach dem EU-Referendum, wo eine Mehrheit der Schotten gegen, eine Mehrheit im gesamten Land aber für den Brexit gestimmt hat, wurde viel über mögliche neue Spannungen diskutiert. In der Tat war es aber so, dass bei der Unterhauswahl 2017 die SNP relativ stark Stimmen verloren hat. Seither ist die Debatte über eine mögliche Zersplitterung nach dem Brexit etwas verstummt. Aber natürlich habe ich auch keine Kristallkugel.

STANDARD: Wie lange kann sich Theresa May nach dieser Serie an Niederlagen im Unterhaus noch im Amt halten?

Turner: Das ist natürlich eine politische Frage. Ich möchte aber darauf hinweisen, dass es Großbritannien wirtschaftlich recht gut geht, wir haben eine niedrige Arbeitslosenquote, eine sehr hohe Beschäftigungsquote, die Exporte laufen gut. Das bedeutet, dass sich die Brexit-Debatte bisher nicht auf die Wirtschaftslage ausgewirkt hat und der Druck auf die Regierung dementsprechend nicht allzu groß ist.

STANDARD: Viel wird dieser Tage über eine Trägheit des britischen politischen Systems gesprochen, die nun angesichts der vielen Abstimmungen im Unterhaus zutage tritt. Was halten Sie davon?

Turner: Großbritannien ist mit seinen 65 Millionen Einwohnern ein relativ großes Land mit einem gut entwickelten demokratischen System. Es kommt nicht so oft vor, dass man zu einem so zentralen Thema wie dem Brexit eine so große Debatte führt. Man kann sich auch fragen, wie ein ähnliches Referendum in den anderen EU-Mitgliedsstaaten abgelaufen wäre, auch bei den sechs Gründungsmitgliedern. Die sehr lebendige Debatte über den Brexit ist für mich keineswegs ein Zeichen dafür, dass das System geändert werden muss. Aber natürlich ist jede Demokratie ständiger Entwicklung unterworfen, wir haben heute eine ganz andere Medienlandschaft als vor zehn Jahren, etwa wegen der sozialen Medien.

Über den Zustand der Demokratie in seinem Land macht sich Botschafter Turner trotz des Brexit-Chaos keine Sorgen.
Foto: Regine Hendrich

STANDARD: Wie erklären Sie Ihren britischen Landsleuten hier in Österreich, wie es weitergehen soll nach dem Brexit?

Turner: Wir arbeiten sehr intensiv mit der österreichischen Regierung wegen die Konsequenzen eines möglichen No-Deal-Brexits für die knapp 11.000 Briten hier im Land zusammen. Gibt es einen Deal, sind die Briten in den EU-Staaten abgesichert. Für die 25.000 Österreicher in Großbritannien würde sich auch ohne Deal kaum etwas ändern, sie hätten die fast identischen Rechte wie mit einem Deal, das hat die britische Regierung gesetzlich untermauert. Für die Briten in Österreich hat die österreichische Regierung für den Fall eines No Deal ein Begleitgesetz geschaffen, das sie weiterhin in Österreich willkommen heißt. Wir hoffen aber nicht, dass es zu No Deal kommt, ich halte das für höchst unwahrscheinlich.

STANDARD: Ein zweites Referendum können Sie ausschließen?

Turner: Im Moment ist das doch sehr unwahrscheinlich. Viele Briten sagen, es sei nicht sehr demokratisch, wenn man so viele Referenden macht, bis das für die eine Seite richtige Ergebnis herauskommt. Andere wiederum argumentieren, dass der Brexit-Deal, so wie er am Tisch liegt, zur Zeit des Referendums nicht vorherzusehen war, weshalb man ihn nun mit einem zweiten Referendum bestätigen lassen sollte. Frau May hat aber ausdrücklich gesagt, dass dies nicht dem Willen des Volkes entspricht, weil man eben schon abgestimmt hat.

Großbritanniens Botschafter Turner: "Die grundsätzlichen Werte eines Landes werden von einer solchen Debatte nicht angegriffen."
Foto: Regine Hendrich

STANDARD: Glauben Sie, dass das Chaos in Großbritannien das Image des Landes nachhaltig beschädigen wird?

Turner: Jedes Land hat seine Stärken und Schwächen. Unsere Stärken bleiben uns, etwa unser Bildungs- und Wissenschaftssystem, aber auch unser Militär und unsere Nachrichtendienste. Die grundsätzlichen Werte eines Landes werden von einer solchen Debatte nicht angegriffen.

STANDARD: Direkt nach der Abstimmung über die Brexit-Verschiebung kam im Unterhaus dann die Sprache auf Probleme mit dem Wasserrohrsystem in der englischen Provinz. Von Weltpolitik also direkt zu Lokalthemen. Ist der Brexit in Ihrer Heimat eigentlich tatsächlich ein so dominantes Thema, wie es von hier aus den Anschein hat?

Turner: Es dominiert natürlich nicht alles. In den Zeitungen wird öfters kritisiert, dass wir zu viel über den Brexit diskutieren. Das Leben geht aber auch abseits des Brexits weiter. (Florian Niederndorfer, 17.3.2019)