Honnold beim Aufstieg. Die Route "Freerider" ist mit dem Schwierigkeitsgrad 5.13a bewertet, auf der französischen Skala entspricht das 8a, auf der UIAA-Skala IX+/X−.

National Geographic/Jimmy Chin

975 Meter sind weit.

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Honnolds kurzer Moment Perfektion. Oder wie er sagt: "I am delighted."

Foto: National Geographic/Jimmy Chin

Alex Honnold klettert der Kameradrohne entgegen. Ein einsames rotes T-Shirt auf grauem Granit, unter ihm 900 Meter Luft und die fast senkrechte Felswand El Capitan, all das vor der Leinwand des Yosemite Valley. In einem anderen Kontext wären diese Bilder einfach nur eindrucksvoll. Honnold die letzten Seillängen des legendären "El Cap" klettern zu sehen ist aber vor allem furchteinflößend. Denn er klettert ohne Sicherung.

"Jeder kann sterben. Free Solo macht es nur näher und präsenter", sagt der 33-Jährige. Dieses Free Solo ist seine Spezialität: ungesichert, ohne Hilfsmittel. Je nach Sichtweise ist es die Königsdisziplin des Kletterns oder ein Fall für sprichwörtlich Ang'rennte. "Jeder, der Free Soloing zu einem großen Teil seines Lebens gemacht hat, ist jetzt tot", sagt Tommy Caldwell, selbst ein Kletterpionier.

Der Trailer zum Film.
National Geographic

2008 bezwang der davor völlig unbekannte Honnold die nicht minder legendäre, aber deutlich kürzere Route Moonlight Buttress im Zion Nationalpark Free Solo. Ab da war "El Cap" einerseits der logische nächste Schritt, andererseits aber so weit weg vom Universum des Möglichen, dass auch der beste Free-Solo-Kletterer der Welt es nicht aussprach.

Bis er der befreundeten Filmemacherin Elizabeth Chai Vasarhely von seinem Vorhaben erzählte. Gemeinsam mit ihrem Ehemann Jimmy Chin, selbst Kletterer, begleitete sie Honnold bei seiner langen Vorbereitung. Das Endprodukt Free Solo gewann heuer den Oscar für die beste Dokumentation. So viel sei verraten: Honnold war mit auf der Bühne und erfreute sich zwar nicht der Menschenmenge, aber doch bester Gesundheit.

Angstschweiß

Das Wissen über den guten Ausgang nimmt dem Film keine Spannung. Honnolds finaler Aufstieg lässt den Zuseher aufs Nägelbeißen vergessen. 975 Meter ohne Seil, es könnte nicht anders sein. Free Solo widmet sich aber weniger diesem einen Aufstieg als vielmehr Honnold selbst. Es ist ein Film über einen Menschen, über Lebenssinn, Risiko und Liebe.

360 Grad El Capitan: Schwindelfreiheit empfohlen.
National Geographic

Der Planungsaufwand mit vier Kletterern als Kameramännern ist beträchtlich. Ansonsten erzählen Chai Vasarhely und Chin ohne großes Brimborium und Schnittmagie die Geschichte dieses mittlerweile 33-Jährigen, der einfach anders tickt. Honnold geht sein Irrsinnsprojekt völlig rational an. Das beruhigt, da er die Gefahr durch perfekte Vorbereitung minimiert – und beunruhigt, da er über das Risiko des tödlichen Fehlers spricht wie andere über einen Ölwechsel. Ja, es gibt Nervosität und Selbstzweifel – aber es gibt eben auch eingangs erwähntes "Jeder muss sterben".

Eine Doku über die Doku? Warum nicht.
The New York Times

Mit der gleichen Schonungslosigkeit und Objektivität erzählt der Ausnahmekletterer von seiner Kindheit. Ohne Groll oder Schmerz erinnert er sich an ein Elternhaus, in dem der kleine Alex nie gut genug war, und lässt durchblicken, dass das der Antrieb für seine Karriere ist. "Auf der Suche nach Perfektion kommt man mit Free Solo dieser am nächsten", sagt er zuerst. Und dann gar: "Wenn man es geschafft hat, fühlt man sich kurz perfekt."

Wachstum

"Alle haben es gemacht. Das schien mir eine gute Fähigkeit zu sein", sagt Honnold im Film. Er spricht über die Fähigkeit, Menschen zu umarmen. Nicht über den emotionalen Aspekt – über die Abfolge der Bewegungen. Wer das mit 23 Jahren bewusst lernen muss, der wurde zu Hause wahrscheinlich nicht mit Liebe überschüttet.

Making of.
ESPN

Hundert Kinominuten arbeitet Honnold daran, El Capitan zu knacken. An seiner Seite hat seine Partnerin Sanni McCandless ihr persönliches Mammutprojekt: ihren unbeholfenen, zum Teil verschlossenen Freund zu knacken. "Er ist nicht gut darin, über seine Gefühle zu sprechen", sagt die sieben Jahre jüngere McCandless anfangs und untertreibt dabei grenzenlos.

Sie ist die nicht so stille Heldin der Geschichte. Honnold ohne Free Solo, das gäbe es nicht. Also leidet "San-San", will unterstützen, hat Angst, kämpft, macht Fehler, muss ertragen, muss akzeptieren und ist bei all dem ein menschlicher Sonnenschein. Als das Paar vom Tod der Schweizer Bergsteigerlegende Ueli Steck erfährt, ruft McCandless: "Ich bin Nicole!" Nicole ist Stecks Witwe.

Man kann Honnold zusehen, wie er sich zwischenmenschlich entwickelt, erlebt aber auch das Spannungsfeld, das die Beziehung erzeugt. "Vielleicht ist El Cap für die nächste Generation", zweifelt er, "oder für jemanden, der nichts zu verlieren hat." Vor dem großen Tag reist McCandless ihrem Partner zuliebe ab. Bei der Oscar-Verleihung war sie wieder dabei. (Martin Schauhuber, 16.3.2019)

Her mit der Statue.
ABC