Martin Prinz: "Was prallt in so einem Kopf aufeinander? Das war, als hätten zwei Nachbarn aussichtslos gestritten, bis einer dann sagte, ich halt das nicht mehr aus, ich hol die Polizei. Genau das hat Johannes getan, Johannes hat die Polizei geholt."

Foto: Lukas Beck/Insel Verlag

STANDARD: Sie haben den 2014 des Dopings überführten Johannes Dürr gut vier Jahre lang begleitet, mit ihm ein Buch geschrieben, Titel: "Der Weg zurück". Doch Dürr hat weiterhin gedopt, hat auch Sie belogen. Wie geht es Ihnen damit?

Prinz: Natürlich fühle ich mich betrogen. Doch der größte Betrug bleibt der des Johannes Dürr an sich selber. Johannes hat ja viel Wahres gesagt, nur nicht im Bezug auf sich selber. Er ist der erbarmungsloseste Aufdecker, den man sich vorstellen kann. Er hat sich in seiner Erbarmungslosigkeit selbst über die Klinge springen lassen.

STANDARD: Was bedeutet Dürrs Dopinggeständnis für das Buch?

Prinz: Das Buch hatte eine Lebensdauer von 21. Jänner bis jetzt. Die erste Auflage ist fast vergriffen, doch die war nicht sonderlich hoch. Eine weitere Auflage wird es angesichts der Umstände nicht geben. Das ist ein ganz banaler ökonomischer Schaden, abgesehen von allem anderen. Johannes hatte ja beim Zoll ein regelmäßiges Einkommen, im Gegensatz zu mir.

STANDARD: Immerhin wurden via Crowdfunding knapp 40.000 Euro lukriert.

Prinz: Das Geld kam auf das Konto von Johannes. Ich glaube nicht, wie ein Vorwurf gelegentlich lautete, dass etwas davon ins Doping ging. Aber er hat den Leuten, die da eingezahlt haben, etwas anderes versprochen, als er getan hat. Dieser Vorwurf ist legitim. Mit den Leuten wird er reden müssen – und gegebenenfalls wird er zurückzahlen müssen.

STANDARD: Können Sie sich Dürr und sein Tun erklären?

Prinz: Da ist man genau bei der Debatte, die bereits unser Buch führt. Was prallt in so einem Kopf aufeinander? Das war, als hätten zwei Nachbarn aussichtslos gestritten, bis einer dann sagte, ich halt das nicht mehr aus, ich hol die Polizei. Genau das hat Johannes getan, Johannes hat die Polizei geholt. Er muss unglaubliche Sehnsucht nach einer Aufdeckung gehabt haben.

STANDARD: Inwiefern hat er sich selbst ausgeliefert?

Prinz: Auf Basis des Buchs ist die ARD-Doku entstanden. Danach war klar, die Staatsanwaltschaft wird sich melden, er muss unter Wahrheitspflicht aussagen. Ich habe das Gefühl, Johannes hat da etwas vernichten müssen. Eine unbewusst vorsätzliche Vernichtung, die alles umfasst. Das Privateste, das Öffentlichste, alles.

STANDARD: Worum, dachten Sie, sollte es für Dürr in dieser Saison gehen?

Prinz: Um die Frage: Wie kann er sich vom Leistungssport verabschieden? Von diesem Sport, der ihn geformt und deformiert hat und der ihm einen Spiegel vorhält. Da rauszukommen, woanders hinzukommen. Das war die geplante Erzählung.

STANDARD: Und der sportliche Plan lautete WM-Qualifikation?

Prinz: Es sollte eben für Johannes nicht wieder um das Absolute gehen, sondern um die Möglichkeit einer realistischen Leistung. Die sportliche Qualifikation für die Staffel, unabhängig von der Aufstellung durch den ÖSV, sollte hier Ziel wie Schutz vor übergroßen Erwartungen sein. Wie wichtig das ist, erzählten wir in unserem Buch. Damit, so dachte ich mir nach viereinhalb Jahren, hätte er ein Schutzschild.

STANDARD: Sie haben nie gedacht, dass er ohne Doping scheitern könnte?

Prinz: Ich hab daran geglaubt, dass er es schaffen kann, sich für die WM-Staffel zu qualifizieren. Es wäre möglich gewesen. Der Tisch war angerichtet. Er hat, offensichtlich vor der ersten Blutrückführung, einen guten Ergometertest gemacht. Aber natürlich waren wir amateurhaft. Der Schriftsteller war manchmal Skitester und Wachsler. Umso widersinniger ist das Doping. Was willst du mit Doping, wenn du kein Team hast, das dir Ski herstellt?

STANDARD: Haben Sie eine Erklärung dafür, dass Dürr wieder gedopt hat?

Prinz: Persönlich, nein, keine. Momentan übersteigt das meine Vorstellungskraft, es ist mir einfach zu nah.

STANDARD: Hatten Sie nach dem Geständnis Kontakt zu Dürr?

Prinz: Ich hab mich nach seiner Festnahme in den Zug nach Innsbruck gesetzt. Im Zug hab ich erfahren, dass er bis vor kurzem Eigenblutdoping betrieben hat. Mir ist es dann darum gegangen, dass er mich ansehen muss. Wir haben auch zu reden versucht, aber es war sinnlos, momentan.

STANDARD: Worüber würden Sie mit ihm reden wollen?

Prinz: Wir haben das Buch unseren beiden Söhnen gewidmet, weil wir ihnen etwas vom Sport erzählen wollten. Wo liegen die Gefahren, wo liegt der Reiz, wie kann man damit umgehen? Ein Buch, das den Söhnen gewidmet ist. Theoretisch hat man da die höchste moralische Verpflichtung, die man sich nur vorstellen kann.

STANDARD: Doch frei nach Brecht: Erst kommt das Dopen, dann die Moral?

Prinz: Der Spitzensport umfängt die Individuen so, dass sie auf das Persönliche, das Moralische, das Soziale keinen Zugriff mehr haben. Viele Spitzensportler gehen davon aus, dass ein Großteil der Elite dopt. Untereinander kommt da keine Moral zur Anwendung, das ist ja nur logisch. Und nach außen hin haben sie das Gefühl, die Gesellschaft versteht sie sowieso nicht. Unser Projekt, unser Plan war, da eine Bresche hineinzuschlagen. Und jetzt ist alles ultimativ signifikant geworden.

STANDARD: Haben Sie Verständnis?

Prinz: Johannes hat seine Engsten und seine Erzählung betrogen. Haltet den Dieb in mir selber, das hat sich dann in seiner Person manifestiert. Das alles kann man vielleicht noch verstehen. Aber wie abgekoppelt das System Hochleistungssport funktioniert, darin liegt die Unvorstellbarkeit. Der Arzt hat gewusst, dass Johannes ausgesagt hat. Max Hauke und Dominik Baldauf haben es gewusst. Ich dachte, in Seefeld wird gar nichts passieren. Aber Doper in ihrer Kapsel denken nicht weiter, sondern machen einfach weiter.

STANDARD: Leben Doper in einer eigenen kleinen Welt, die immer kleiner wird?

Prinz: Die meisten Spitzensportler leben in einer eigenen Welt. Wenn ich mir Hauke und Baldauf ansehe, sehe ich Kinder in Erwachsenenkörpern. Sie haben in einer geschützten Werkstatt gelebt, hatten nie mit einer Außenwelt zu tun. Gleichzeitig haben sie viel Erfahrung mit Archaischem wie Sieg und Niederlage, Hoffnung und Enttäuschung. In diesem Spezialgebiet sind sie alte Menschen, weil sie in kurzer Zeit und in einer Konzentriertheit erleben, was andere Menschen erst nach vielen Jahren im Berufs- oder Familienleben erfahren. Und niemand hält ihnen den Spiegel vor und sagt, so schaut ihr wirklich aus.

STANDARD: Dürr hat letztlich paradoxerweise dem österreichischen Skiverband geholfen, der behaupten konnte, Dürr habe Baldauf und Hauke nach Erfurt vermittelt.

Prinz: Von Vermittlung würde ich nicht ausgehen. Dass sie über den Arzt S. in Erfurt geredet haben, das kann ich mir vorstellen. Aber der ÖSV kann sich nicht aus seiner Verantwortung stehlen. In welcher Obhut sind Teenager dort? Viele landen in einer Welt, die losgekoppelt ist. Sie lernen, was man da drinnen lernt. Und sie lernen nichts, was man nicht da drinnen lernt.

STANDARD: Und das holt sie später ein?

Prinz: Irgendwann kommt man nicht mehr vorbei an der Frage: hab ich das Mögliche geschafft oder das Unmögliche? Habe ich jemanden betrogen? Habe ich mich selbst betrogen? Mag sein, viele können es zeitlebens verdrängen. Da ist jeder anders.

STANDARD: Welche Rolle spielt die Gier?

Prinz: Natürlich erklärt sie einiges. Die Gier ist etwas Blindes. Sie lässt einen nicht sehen, wie sinnlos das ist, was man tut. Die Gier ist auch in unserer Gesellschaft eine Triebfeder. Der Slogan vom Geiz, der geil ist, ist nur die Fortsetzung von Gier. In dieser Welt leben wir, so ist es.

STANDARD: So gesehen wäre der Spitzensport aber doch nicht abgekoppelt.

Prinz: Der Sport ist ein Versuchsraum. Und wir sind ganz erstaunt, wenn in diesem Raum die Dinge so stattfinden, wie sie stattfinden. Dabei schauen sie uns nur an. Und sie sagen uns, ja, so seid ihr alle. Du bist das, was du jetzt grad im Spiegel siehst.

STANDARD: Wie sind Sie mit Johannes Dürr verblieben?

Prinz: Noch gar nicht. Er muss sich jetzt einmal zu mir verhalten. Man muss sehen, ob und wie er das kann.

STANDARD: Für Sie ist es vorstellbar, in Zukunft mit ihm zu tun zu haben?

Prinz: Er hat etwas Böses getan, aber deshalb ist Johannes Dürr für mich kein böser Mensch. Dass ich mit ihm nichts mehr zu tun haben will, so etwas ließe sich leicht sagen. Aber was da alles in mein Schreiben, in mein Leben hineingespielt hat, das kann ich nicht aus mir herausreißen. Ich kann auch nicht sagen, wir werden wieder Freunde sein. Das wäre ebenfalls eine Abschottung vom Geschehenen. Es wird Zeit und Leben brauchen, bis alles angreifbar und begreifbar wird. Ob man sich das gemeinsam anschauen kann, wird man sehen.

STANDARD: Werden Sie das Erlebte beschreiben, aufschreiben?

Prinz: Ja, sicher. Ich mache jetzt schon Notizen. Aber es ist noch viel zu früh. Bei "Der Weg zurück" ist das Ende offen geblieben. Wir hatten die Verpflichtung, außerhalb des Buchs unsere Geschichte fertig zu erzählen. Und das ist noch immer der Fall. Ich mache das auf meine Weise, Johannes macht es auf seine Weise. Im besten Fall gibt es irgendwann Annäherung. (Fritz Neumann, Stefan Gmünder, 16.3.2019)

Johannes Dürr, Martin Prinz, "Der Weg zurück. Eine Sporterzählung". € 22,70 / 340 Seiten. Insel, Berlin 2019. Erste Auflage fast vergriffen, wird nicht mehr aufgelegt.