Nils Heisterhagen: "Als Einheitspartei des progressiven Neoliberalismus hat eine Partei wie die SPÖ gewiss keine Zukunft."

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Seine Ideen veröffentlichte der deutsche Sozialdemokrat im Buch "Die liberale Illusion. Warum wir einen linken Realismus brauchen", erschienen im Dietz-Verlag.

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Hans Peter Doskozil gegen Pamela Rendi-Wagner. Dieser Personenkonflikt scheint gerade die SPÖ zu bestimmen. Am Thema der Sicherungshaft entzündet er sich. Aber die Debatte deutet auf weit mehr hin: auf einen Grundsatzkonflikt um die Fragen des zukünftigen Kurses der SPÖ und der Bandbreite sozialdemokratischer Meinungen.

Cartoon: Felix Grütsch

In der Sozialdemokratie spiegeln sich so gut wie alle Widersprüche, Gegensätzlichkeiten, Risse und Herausforderungen der Gegenwart. Kurz: Ihr Spektrum an Meinungen ist fast so groß wie das Spektrum der Meinungen generell. Diese Pluralität bekommt sie zurzeit kaum mehr versöhnt. Dabei war das einst ihre Fähigkeit und fast ihr Alleinstellungsmerkmal: Vom Professor bis zum ungelernten Arbeiter integrierte sie große Teile der Gesellschaft zu einem größeren Ganzen und ermöglichte, dass linke Politik das eigene Land und Europa gestalten konnte.

Taumelnde Partei

Diese Aufgabe politischer Integration gelingt ihr europaweit kaum mehr. Die Sozialdemokratie findet keine klare Linie, taumelt vor sich hin, und durch ihre Sprachlosigkeit bei vielen politischen Konflikten und Herausforderungen wird sie zunehmend unattraktiv für die breite Masse der Menschen. Sie wirkt mit sich selbst beschäftigt, unzufrieden mit sich, und übertüncht intern Ungeklärtes mit einem Jargon des Ungefähren. Ihre klare Kante, ihr "sagen was ist", ihr schonungsloses Ansprechen sozialer Verhältnisse, ihr "linker Realismus", der sie einst auszeichnete, scheint in einer großen, schon länger andauernden Therapiesitzung verschwunden zu sein.

Eine Partei, die mit sich selbst hadert und in der Parteikader intern um eine Hegemonie kämpfen, wird von außen stets als zerrütteter Haufen wahrgenommen. So ergeht es vielen Sozialdemokratien gerade. Sie verlieren die Realität aus dem Blick – und nur der Kampf für das bessere Leben brachte ihr einst unter Bruno Kreisky und Willy Brandt die Mehrheit und beflügelte die Träume der Menschen.

Wenig Realitätssinn

Die postdemokratische Version der Sozialdemokratie, die viel Kommunikation produziert, aber wenig Programmatik und Realitätssinn, wird vom Wahlvolk mehr und mehr ignoriert. Politische Kommunikation ist nicht das, was zählt. Was zählt, ist die politische Veränderung. Wenn Karl Marx mit etwas recht hatte, dann mit seiner elften Feuerbach-These, dass es darauf ankomme, die Welt zu verändern. Schönrednerei und Folklore vergangener Zeiten prägen momentan das Bild der europäischen Sozialdemokratie. Eine originär eigene Antwort auf die neue Lage hat sie kaum – weil sie sich nicht mehr selbst versteht.

Gewiss, die Sozialdemokratie, auch die in Österreich, hat es nicht leicht. Sie wirkt zwischen zwei Polen wie gefangen. Auf der einen Seite stehen die Kräfte der liberalen Selbstzufriedenheit (die Grünen, Teile der Konservativen und Liberalen) und auf der anderen die systemkritischen Populisten von ganz rechts und ganz links. Zwischen diesen Polen wird die Sozialdemokratie gerade zerrieben. Und da es ihr europaweit kaum gelingt zu begründen, wo ihr Platz im Parteiensystem ist und wofür es sie noch braucht, verliert sie im Grunde an alle.

Neoliberale Maximalfreiheitsforderung

Sowohl rein kulturelle als auch rein ökonomische Erklärungen greifen zu kurz bezüglich der Frage, warum wir europaweit Polarisierung, sich voneinander entfremdende Lebenswelten und den Aufstieg von Populismus beobachten können. Die Kulturalisierungsthese, dass es allein die unterschiedlichen Werte und Identitäten sind, die Menschen zwischen Stadt und Land, arm und reich, hoch gebildet und weniger gebildet trennt, greift zu kurz. Sicher stimmt, dass wir eine "neue Akademikerklasse" haben, wie der Soziologe Andreas Reckwitz beschreibt, die zum Teil anders tickt als die "alte Mittelklasse", und eine "neue Unterklasse" und dass so mancher politisch motivierte Großstädter mit akademischem Hintergrund zuletzt zu Wohlstandsmoralismus und zu "Wer-bin-ich-und-will-ich-sein-Fragen" neigte.

Mit dem Neoliberalismus, der eine ökonomische Maximalfreiheit predigte, ging ja auch eine kulturelle Maximalfreiheitsforderung einher. So kam es, dass die politische Linke, zumindest viele Intellektuelle und einige Funktionäre in Großstädten wie Wien, eine neue Identitätspolitik zu ihrem Programm machte. Dies wurde als Emanzipationsprojekt und Befreiung interpretiert. Manche Landbewohner, Arbeiter oder einfachen Angestellten, denen radikale Flexibilisierung und maximale Freiheit missfielen, weil sie dies eher mit Ängsten als mit Hoffnung verbanden, fühlten sich so gewiss unverstanden. Sie neigten in ihrem Unmut dazu, konservative bis rechtspopulistische Parteien, die ihnen mehr Ordnung und Kollektivität versprachen sowie Traditionen nicht lächerlich machten, zu wählen.

Zentrales Übel

Die übertriebene Beschäftigung mit Identitätspolitik gilt vielen mittlerweile als das zentrale Übel, das dafür verantwortlich ist, dass die Sozialdemokratie vor sich hinsiecht. Manche Kritiker sehen darin sogar ausschließlich die Ursache für die Entfremdung einer breiten Masse der Bevölkerung von der politischen Linken. Mit anderen Worten: Wenn die politische Linke schon so jemanden wie Doskozil als Sicherheitspopulisten verunglimpft, dann ist für eine auf Bandbreite angewiesene Volkspartei wie die SPÖ Hopfen und Malz verloren.

Als Einheitspartei eines progressiven Neoliberalismus, als unerbittliche identitätspolitische Front, in der nur noch stromlinienförmiger urbaner Elitismus erlaubt ist, hat eine Partei wie die SPÖ gewiss keine Zukunft. Doskozil hatte recht, als er im Gastkommentar im STANDARD mehr Diskussion und weniger – postmoderne – Empörung forderte.

Politische Ökonomie

Liegt also maßgeblich in einer Mäßigung des Wohlstandsmoralismus mancher geisteswissenschaftlicher politischer Kreise das Erfolgsrezept zur Rückkehr zu alter Stärke? Dies wäre zu kurz gegriffen. Der Philosoph Robert Pfaller plädiert zusätzlich für eine kritische Bewertung der Blüten der postmodernen Identitätspolitik und eine Rückkehr der Klassenpolitik. Klassenpolitik klingt nun nach "linkem Populismus" – mehr nach radikaler Linker als nach SPÖ. Aber im Kern liegt darin eine wichtige Botschaft für die SPÖ. In der politischen Ökonomie liegt nicht nur eine Ursache ihrer momentanen Lage, sondern darin könnte auch eine entscheidende Antwort liegen. Auch darauf hat Doskozil zu Recht hingewiesen.

Nun tun wir dies doch einmal und reden über Geld. Was wir dann sehen, ist, dass in Österreich nicht nur die soziale Frage wieder stärker zu stellen ist, sondern auch gefragt werden muss, was Österreich wieder stärker machen kann. Die Gewerkschafterin Veronika Bohrn Mena berichtet in ihrem Buch "Die neue ArbeiterInnenklasse": "300.000 Erwerbstätige, das entspricht rund acht Prozent aller Beschäftigten, wurden 2017 als 'Working Poor' eingestuft. Sie sind arm, obwohl sie arbeiten. Ihr Einkommen liegt ungeachtet ihrer Erwerbstätigkeit unter der Armutsgefährdungsschwelle von 1238 Euro netto monatlich." Und: "Einen stabilen Arbeitsplatz mit Zukunftsperspektive hat heute nicht einmal mehr ein Drittel der jungen Erwerbstätigen". Unter den bis zu 25-Jährigen sehen knapp 70 Prozent mit größerer Unsicherheit in die nahe Zukunft. Diese Kombination aus erodierender sozialer Sicherheit, fehlendem Zukunftsoptimismus und dem Anstieg wenig auskömmlicher Arbeit wäre eigentlich wie gemacht für eine Reaktion der SPÖ mit einem politik-ökonomischen Programm.

Nicht nur Umverteilung

Denn wer soll ein solches Programm von der FPÖ oder einem offenbar völlig selbstzufriedenen Sebastian Kurz erwarten, der zuletzt sogar mit Verhöhnung von Armen in Wien negativ auf sich aufmerksam machte? Die Herausforderungen der Gegenwart erfordern eigentlich eine starke SPÖ.

Ihr Programm sollte Umverteilung anvisieren, aber nicht nur. Denn Menschen mit auskömmlichen Löhnen bei guten Qualifizierungsmöglichkeiten und stabilen Arbeitsverhältnissen prägen nicht nur die Basis für eine gute Wirtschaftsentwicklung, sondern stärken als stabile Mittelschichten auch die Demokratie. Das impliziert also mehr als Umverteilung. Es braucht auch linke Wirtschaftspolitik.

Plan für die Zukunft

Österreich braucht einen Plan für die Zukunft seiner Industrie und ein Sozialsystem, welches das Fördern in den Vordergrund stellt – nicht das Fordern, wie es Kurz vorschwebt. Der Staat muss wieder mehr eine helfende Hand werden. Österreich hat wie Deutschland ein einzigartiges System dualer beruflicher Ausbildung, das hochqualifizierte nichtakademische Fachkräfte hervorbringt. Dieses Berufsbildungssystem sollte in einem "Pakt für berufliche Bildung" gestärkt werden. Das wäre auch ein gutes Signal an all jene, die sich vom urbanen Elitismus zuletzt entfremdet gefühlt haben. Ein solches Programm könnte so auch identitätspolitische Konflikte abmildern.

Die einzige politische Kraft, die dazu wirklich in der Lage wäre, ist die SPÖ. Es muss nun ein Ruck durch sie gehen. Es ist höchste Zeit für eine Resozialdemokratisierung. Wach auf, SPÖ! (Nils Heisterhagen, 15.3.2019)