Die Ökonomisierung der Unis gefährde die Wahrheitssuche mehr als die Politik, sagt Sophie Loidolt.

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Dass jemand Nachrichten fälschen will, ist nicht so neu. Die Qualität heute sei aber eine andere und demokratiegefährdend, sagt Philosophin Sophie Loidolt. Der Unterschied zwischen Tatsachen und Meinungen werde systematisch und skrupellos verwischt.

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Was passiert in Zeiten allgegenwärtiger Fake-News-Vorwürfe, Filter-Bubbles und Alternative Facts, mit denen nicht nur im Weißen Haus hantiert wird, mit der Wahrheit? Wenn die Grenze zwischen objektiver Information und subjektiver Meinung zunehmend verschwimmt? Es ist jedenfalls eine politische und gesellschaftliche Herausforderung, die im Kontext von Bildung höchste Relevanz hat. Die Vortragsreihe "Fachdidaktik kontrovers" – in Kooperation von Philosoph Konrad Paul Liessmann und STANDARD organisiert – widmet sich daher der Frage "Fake News – Bildung und Wahrheit in der Mediengesellschaft". Zum Auftakt spricht Philosophin Sophie Loidolt am Mittwoch, 20. März (17 Uhr, NIG, Hörsaal 3D, Universitätsstraße 7) zum Thema "Urteilen 2.0. Mit Arendt zu den Bedingungen des Urteilens in einer Kultur der Digitalität".

STANDARD: Wenn US-Präsident Donald Trump etwas am Alltagsdiskurs verändert hat, dann vermutlich, dass durch ihn das Wort "Fake-News" massentauglich wurde. Er hätte es ja auch gern erfunden, hat er aber nachgewiesenermaßen nicht, denn es ist schon 1890 in amerikanischen Zeitungen dokumentiert. Warum jetzt diese Konjunktur dieses Kampfbegriffs?

Loidolt: Ja, Fake-News sind kein neues Phänomen. Das gibt es, seit es Nachrichten gibt, dass jemand Nachrichten manipulieren möchte. Überraschend und beunruhigend ist, dass wir das früher eher mit totalitären Staaten und Diktaturen assoziiert und in unseren westlichen Demokratien die freie Presse als hohen Wert betrachtet haben. Was jetzt stattfindet, ist die Demontage dieser Säule der Demokratie, die fundamental angegriffen wird. Das hat auch etwas mit dem Internet zu tun. Eines der gefährlichsten Dinge ist, dass man beginnt, skrupellos Tatsachen zu Meinungen umzuformulieren. Das eigentlich Schlimme ist nicht das Lügen per se, sondern die konstante Infragestellung und Bagatellisierung des Unterschieds zwischen Wahrheit und Lüge. Es ist ja alles eine Meinung, oder?

STANDARD: Mit welchen Folgen?

Loidolt: Es heißt dann einfach: Ja gut, Ihre Meinung ist, da waren tausend Menschen, meine Meinung ist, da waren 2500. So, als ob man überhaupt keine Mittel mehr hätte, Dinge objektiv festzustellen. Das verursacht eine Erosion der Begriffe von Tatsache und Meinung. Das ist wirklich gefährlich, weil dadurch allgemein der Eindruck entsteht, na ja, man kann ohnehin nicht mehr wirklich sagen, was jetzt stimmt oder nicht.

STANDARD: Was ist das Gegenteil von Wahrheit? Die Lüge? Oder, den Eindruck gewinnt man mitunter, ist es die "Meinung", die der Wahrheit gerade am meisten zusetzt?

Loidolt: Aus einer logischen Perspektive ist das Gegenteil von Wahrheit Falschheit. Zwei plus zwei ist vier, das ist wahr. Zwei plus zwei ist fünf ist falsch. Aber wir müssen unterscheiden zwischen Vernunftwahrheiten und Tatsachenwahrheiten. Auch eine Tatsachenwahrheit – Was ist gestern um 16.47 Uhr an diesem Ort passiert? – kann man unterschiedlich schildern, aber man kann nicht einfach irgendetwas sagen. Lügen – das können wir von Hannah Arendt lernen – ist eine bestimmte Art des Handelns, auch des politischen Handelns. Wenn ich lüge, dann will ich bewusst eine Tatsachenwahrheit aus der Welt schaffen. Wenn ich bei einer Vernunftwahrheit sage: Zwei plus zwei ist fünf, dann laufe ich eher Gefahr, mich lächerlich zu machen, als bei einer Tatsachenwahrheit, die viel fragiler ist. Denn wenn viele sagen, das ist gar nicht passiert, ich habe es nicht gesehen, ich war gar nicht da, das war anders, dann werden wir unsicher, weil wir keine Beweise haben. Insofern ist die Lüge nicht einfach das neutrale Gegenteil der Wahrheit, sondern eine ganz bestimmte handlungsorientierte Attacke auf die Welt als Tatsachenbestand – und natürlich eine politische Auseinandersetzung mit nicht sehr lauteren Mitteln, aber so ist Politik manchmal.

STANDARD: Hannah Arendt schreibt in "Wahrheit und Politik": "Die Trennungslinie zwischen Tatsachen und Meinungen zu verwischen ist eine der Formen der Lüge." Was bedeutet das für unseren Alltag, die Politik, die Demokratie? Wie können wir diese Trennungslinie wieder befestigen?

Loidolt: Wenn wir auf Donald Trump schauen, sehen wir: Die ständige Verunsicherung, dass es ja eigentlich gar keine Wahrheitsquelle mehr gibt, nichts, worauf wir uns vermeintlich verlassen können, ist eine sehr explizite Sorge für den Alltag geworden. Stichwort Filterblase oder Echokammern. Ja, man ist auch früher an seinem Stammtisch gesessen und umgab sich mit Leuten, die ähnliche Meinungen hatten wie man selbst. Wir waren auch früher nicht ständig mit unterschiedlichen Meinungen konfrontiert, sondern man suchte homogene Umfelder. Aber es ist eine Steigerung, wenn ich mir jetzt meinen eigenen Newsfeed zusammenstellen lassen kann, ohne Kontrolle darüber, wie die Algorithmen vorselektieren, und nur noch das konsumiere. Wenn ich immer nur das herausgefiltert kriege, was meiner Ansicht entspricht, dann verunsichert auch das den Blick auf die Welt. Wie ist es denn wirklich? Diese Verunsicherung durch das riesige Informationsangebot ist der Punkt, wo es um die Urteils- und Bildungsfrage geht. Wie können vor allem junge Menschen hier einen Überblick bewahren? Was können wir tun?

STANDARD: Was können wir tun?

Loidolt: Es ist wichtig, dass wir schon in der Alltagspraxis bei den kleinsten, auch privaten Gesprächen darauf achten, Tatsachenaussagen und Meinungen nicht zu vermischen. Das ist gar nicht so einfach, auch das muss man üben. Zu sagen, so und so ist es, und ich verhalte mich so und so dazu. Das ist ja auch sehr hilfreich, wenn man andere Perspektiven einbeziehen will. Ansonsten entsteht sofort der Konflikt: Wir leben ja gar nicht in derselben Welt. Wir können uns nicht einmal darüber verständigen, was überhaupt passiert ist. Das dividiert uns viel stärker auseinander, als wenn ich sage: Okay, das ist passiert, aber ich sehe das wirklich anders. Das heißt nicht, dass dann die Harmonie ausbricht, aber die Einigung auf zumindest eine gemeinsame Basis, auf die man sich bezieht, ist ein viel stärkeres Bindeglied.

STANDARD: Wie verändern unsere Erfahrungen in einer digitalen Kultur unsere Fähigkeit zu urteilen, zu beurteilen, was Politikerinnen oder Politiker sagen, was in Medien steht oder jemand in unserer digitalen Blase sagt? War urteilen oder beurteilen, ob etwas wahr oder falsch ist, denn früher wirklich automatisch leichter? Oder war es nicht immer eine Bildungsfrage?

Loidolt: Ja. Ganz generell gilt: Viele Probleme, die jetzt in der digitalen Welt akut werden, sind nicht vom Himmel gefallen oder vollkommen neu. Wir müssen uns mit ihnen nur unter anderen Parametern auseinandersetzen, etwa einem unglaublich erweiterten Kommunikationsraum. Aber Urteilsfähigkeit hatte auch schon vor 250 Jahren etwas mit Übung und Bildung zu tun. Wenn ich urteile, ob etwas wahr oder falsch ist, dann ist das nach Immanuel Kant ein bestimmendes Urteil. Dazu kann ich mir den Sachverhalt vergegenwärtigen und versuchen, zu schauen, ob etwas tatsächlich so ist. Die andere Form des Urteils, die Hannah Arendt besonders interessiert, taucht bei Kant in der Ästhetik auf: das reflektierende Urteil, etwa über Kunstwerke. Das Spannende daran ist, dass es da nicht das eine Urteil gibt, ob etwas schön oder nicht schön ist. Das ästhetische Urteil ist immer ein dynamisches Hin und Her zwischen meinem Bezug auf die Sache oder den Gegenstand und der intersubjektiven Kommunikationsgemeinschaft. Arendt sagt, vieles in der Politik ähnelt dem.

STANDARD: In welcher Form?

Loidolt: Es gibt viele Themen, bei denen nicht so einfach zu entscheiden ist, ob moralisch gut oder schlecht. Etwa klassische Diskussionen über Abtreibung oder Euthanasie. Da gibt es verschiedene Aspekte, die man abwägen kann, aber keine eindeutigen Urteile. Ich nehme mit meinem Urteil eine Position ein und sage: Okay, ich bin dafür, denn ich sehe das so und so, aber, und das ist der wichtigste Punkt, ich kann nicht sagen, ich habe recht, und alle anderen liegen falsch. Politik kann mit Lüge Wahrheit deformieren, aber wenn Politik sagt, ich habe die einzige Wahrheit, und die anderen liegen alle falsch, dann sind wir weit weg vom Prinzip des reflektierenden Urteils. Eine Tatsache kann wahr oder falsch sein, aber die Meinung ist nicht einfach wahr oder falsch, die kann unterschiedlich sein. Das ist dann urteilen.

STANDARD: Im Fahrwasser der Fake-News-Debatte ist auch die Wissenschaft in eine Legitimationskrise geraten. Was kann oder muss sie gegen die Aushöhlung der Wahrheit oder des Begriffs davon tun? Wenn jetzt plötzlich Politiker sagen, ja, es gibt die und die Studie zum Klimawandel, aber die kann man glauben oder auch nicht ...

Loidolt: Der Klimawandel ist das große Thema, an dem sich diese Front herauskristallisiert. Die Naturwissenschaften sind es nicht gewohnt, dass sie plötzlich auch in den Bereich der Meinung hineingezogen werden. Die Philosophie ist das mehr gewohnt. Die Naturwissenschaft hatte letztendlich meist den Vorteil, dass die technische Anwendung auf ihrer Seite steht und insofern auch das pragmatische Argument. Jetzt sind die Naturwissenschaften in einer Lage, wo sie, vollkommen zu Recht, wollen, dass politisch gehandelt wird, und stoßen hart mit der Politik zusammen. So wie Galileo Galilei, der Behauptungen machte, die der katholischen Kirche nicht entsprochen haben. Auch da wurde gesagt: falsch, Ketzer, stimmt nicht. Ich mache mir keine Sorgen um die Naturwissenschaften. Eine ganz andere Frage ist, ob es die Menschheit schaffen wird, global auf das Phänomen des Klimawandels zu reagieren. Da bin ich eher nicht optimistisch. Jetzt zeigt sich sehr stark, wenn wirklich politisch gehandelt werden soll, dann leitet uns nicht die Rationalität der Naturwissenschaften. Aber viel problematischer als eine politische Auseinandersetzung darüber ist die Unterwanderung der Wissenschaften durch die Ökonomie in allen Bereichen. Dass Universitäten zu Betrieben gemacht werden, die nach einer ökonomischen Logik geführt werden. Da sehe ich, zumindest bei uns, viel eher die Gefahr, dass die Wahrheitssuche in der Wissenschaft von innen unterminiert wird. (Lisa Nimmervoll, 19.3.2019)