Die erste Hälfte des sechsten Jahrhunderts war eine Zeit der Umbrüche. Nach dem Fall des Weströmischen Reiches wenige Jahrzehnte zuvor schaffte der oströmische Kaiser Justinian I. eine kurzlebige Restauration und brachte Italien, Nordafrika und Teile Spaniens wieder unter Kontrolle. Von Osten drohte dem Reich stete Gefahr durch die Sasaniden. Justinian hatte hier mit Chosrau I. einen gefährlichen Gegner. Der 532 geschlossene "Ewige Frieden" wurde vom Großkönig bereits 540 wieder gebrochen, die syrische Stadt Antiochia zerstört. Dazu wütete ab 541 die Justinianische Pest.

Irgendwann in dieser Zeit gab eine offenbar sehr wohlhabende Person, möglicherweise ein Mitglied des Hofes, den Auftrag für eine illuminierte Handschrift des Buches Genesis – wahrscheinlich an eine Künstlerwerkstatt in Syrien, eventuell sogar in Antiochia. Der griechische Text, eine leicht gekürzte Fassung der Septuaginta-Übersetzung, ist mit Silbertinte auf purpurgefärbte Schafspergamente geschrieben, auf jeder der beidseitig beschriebenen 24 Folios sind farbenprächtige Miniaturen gemalt.

Bewegte Geschichte...

Seit 1664, also mehr als 1100 Jahre nach ihrer Entstehung, befindet sich die Handschrift in den Beständen der Österreichischen Nationalbibliothek (ÖNB). Die "Wiener Genesis" war schon zu diesem Zeitpunkt durch die Korrosion der Silbertinte arg in Mitleidenschaft gezogen – was die Blätter in den elf Jahrhunderten zuvor alles erlebt haben, ist schwierig zu rekonstruieren.

Deutlich sind die Fehlstellen sichtbar, die durch die Korrosion der Silbertinte entstanden. Die Miniatur zeigt eine Szene aus der Geschichte Jakobs – den Übergang über den Fluss Jabok. (Folio 12, Seite 23)

Vermutlich brachten Kreuzfahrer die Handschrift nach Italien, darauf lassen italienische Texte schließen, die im 13. oder 14. Jahrhundert in Oberitalien auf die Blätter geschrieben wurden. Auch Abklatsche von Texten, die durch frühere Bindungen auf die Folios kamen, weisen auf eine italienischen Zwischenstation hin.

Konkret nachweisbar ist der Codex jedoch erst im Nachlass des Erzherzogs Leopold Wilhelm. Zu einem nicht bestimmbaren Zeitpunkt hatte der Kunstmäzen die Wiener Genesis erworben. Erbe Leopold Wilhelms wurde sein Neffe, Kaiser Leopold I. Der Bibliothekar der Wiener Hofbibliothek Peter Lambeck sichtete den Nachlass. Er erkannte die Bedeutung des Codex, datierte ihn korrekt ins sechste Jahrhundert und beschrieb die schadhafte Schrift.

Auf Folio 15, Seite 29 ist Josephs Traum von den Gestirnen dargestellt. Die weiteren Bildteile zeigen die Erzählung vor der Familie und Josephs Brüder in Sichem.

Bei späteren Restaurierungsversuchen wurden die Folios zwischen Glasplatten gepresst aufbewahrt, bei der letzten Restaurierung im Jahr 1975 wurden diese durch Acrylglas ersetzt. Vierzig Jahre später war es an der Zeit, die Pergamentblätter für die Zukunft fit zu machen. In einem vom FWF geförderten Projekt wurden am Institut für Restaurierung der ÖNB unter der Leitung von Christa Hofmann Methoden entwickelt, um die Fehlstellen zu stabilisieren und ein Lagerungssystem zu schaffen, das die Erhaltung der Blätter verbessert. Eines der Probleme bestand dabei darin, dass kaum Vergleichsobjekte existieren. Lediglich der kalabrische Codex Rossanensis und der Pariser Codex Sinopensis ähneln der Wiener Genesis, sie sind vermutlich sogar am selben Ort entstanden. Es handelt sich dabei jedoch um Evangelienhandschriften, die für liturgische Zwecke genutzt wurden, während die Genesis wohl rein privat verwendet wurde.

Auf Folio 18, Seite 36 deutet Joseph die Träume des Pharao.

Um die Erhaltungsbedingungen zu optimieren, wurden die Purpurpergamente einer umfassenden Analyse unterzogen. Der Grad der Alterung, der verwendete Purpurfarbstoff und die Zusammensetzung der Tinte und der Pigmente wurde untersucht. Die ÖNB arbeitete dabei mit dem Kunsthistorischen Museum ebenso zusammen wie mit Experten der Universität für Angewandte Kunst, der TU Wien, der Royal Library Kopenhagen, dem Walters Museum Baltimore und Universitäten aus dem Piemont, Lissabon und New York.

Eine zentrale Rolle bei den Untersuchungen kam der Projektmitarbeiterin Sophie Rabitsch zu. Sie experimentierte mit den Materialien, die zur Stabilisierung eingesetzt werden sollten. Fehlstellen auf den Pergamenten sicherte sie mit hauchdünnen Stücken aus Japanpapier, welches sie farblich genau auf die Tönung der Folios abstimmte. Möglichst originalgetreue Proben stellte sie für eine Serie von Alterungstests her, um festzustellen, wie das Pergament auf Einflüsse reagiert. Für die Experimente wurden eine Reihe verschiedener Pergamente produziert, unter anderem aus der Haut totgeborener Lämmer, der mühevoll die oberste Schicht abgezogen wurde, um der hohen Qualität der Originale möglichst nahezukommen.

Unterschiedliche Effekte: ungefärbtes Schafspergament (oben), mit Orchil (Flechtenfarbstoffe) gefärbt (a), mit Folium gefärbt (b), mit Schneckenpurpur gefärbt (c).
Foto: ÖNB

Die Untersuchungen bestätigten, dass die Texte von zwei Schreibern stammen, die die gleiche Tinte verwendeten. Die eingesetzten Farbpaletten verraten, dass wohl sieben Künstler mit individuellen Vorlieben bei bestimmten Farbtönen die Miniaturen malten. So kam Ultramarin, aber auch Azurit oder Ägyptischblau zum Einsatz. Für die Purpurfärbung wurden Flechten verwendet. Dies ist nicht überraschend, bisher wurde weltweit noch kein Nachweis für den Einsatz von Schneckenpurpur bei Büchern erbracht. Es scheint, als wären Purpurschnecken nur beim Färben von Textilien verwendet worden, während für Bücher die Wahl auf andere Farbstoffe fiel.

Proben von Silbertinten auf Purpurpergament nach der beschleunigten Alterung.
Foto: ÖNB

...unbewegte Zukunft

Kein lebender Mensch habe so viel Zeit mit der Wiener Genesis verbracht wie sie, sagt Rabitsch mit einem Schmunzeln. Dies wird auch so bleiben: der Codex bleibt unter Verschluss und wird nur zur jährlichen Kontrolle hervorgeholt. Die Öffentlichkeit muss aber nicht auf die Genesis verzichten: Die Forschungsergebnisse werden in etwa einem Jahr als Buch veröffentlicht, auch eine limitierte Faksimileausgabe ist geplant. (Michael Vosatka, 23.3.2019)

Risse und Fehlstellen in der Silbertinte wurden mit genau abgestimmtem gefärbtem Japanseidenpapier hinterlegt.
Foto: ÖNB