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Mit dem Symbol ihres Volkes in Form brennender Kerzen erinnerten junge Krimtataren im Mai 2015 in Simferopol an die Deportationen während des Zweiten Weltkriegs.

Foto: AP / Alexander Polegenko

Es ist so, als wäre er gerade noch da gewesen. Da sind die Medikamente im Vorraum. Die Krücken, die an der Haustür lehnen. Doch seit Monaten hat Gulnara Bekirowa ihren Mann nicht gesehen. Sie hat weder seine Stimme gehört noch seine Hand gehalten. Fast 100 Tage sind es, so steht es auf ihrem Kalender, schwarz auf weiß, der hinter der Sitzbank in der Küche hängt. Jeden Tag hat sie mit Filzstift schwarz eingerahmt. "Free Edem Bekirow" steht darüber.

Das Dorf Nowooleksijiwka in der Südukraine. Kleine, geduckte Häuser, die sich an staubigen Straßen aneinanderreihen. An klaren Tagen sieht man hinüber, wo seit der Annexion der Halbinsel die russischen Grenzer stehen. Eine Staatsgrenze, so nennen es die Russen. Eine "administrative Grenze", so nennen es die Ukrainer.

Hier wurde Edem Bekirow, 57 Jahre alt, am 12. Dezember 2018 von russischen Beamten festgenommen. Der Vorwurf: Besitz und Mitnahme von 14 Kilogramm Sprengstoff und Munition. Jetzt wird ihm jenseits der Grenze, in Simferopol, der Prozess gemacht.

Edem Bekirow ist kein Terrorist, sagt seine Frau Gulnara. Sondern schwer krank. Wenige Monate vor seiner Verhaftung wurde Bekirow am Herzen operiert, zwei Tage lang musste er künstlich beatmet werden. Nach einem Gefäßverschluss musste sein rechtes Bein schon vor Jahren amputiert werden, er geht auf Krücken. Zum Jahreswechsel wollte er nur seine Familie in Simferopol besuchen.

Doch jetzt wird ihm dort der Prozess gemacht. "Nach der Operation konnte er nicht einmal eine Wasserflasche hochheben", sagt Gulnara. "Wie soll er da 14 Kilogramm Sprengstoff über die Grenze tragen? Wo er noch dazu auf Krücken geht?"

Erinnerung an 1944

Es waren die Krimtataren, die vor fünf Jahren am lautesten gegen die russische Annexion protestierten. Zu frisch war für viele noch die Erinnerung daran, wie es ihnen unter der Moskauer Herrschaft in der Sowjetunion erging. 1944 ließ Stalin das muslimische Turkvolk von der Krim nach Zentralasien deportieren, weil er sie beschuldigte, mit den Nazis kollaboriert zu haben. Erst mit der Wende kehrten rund 300.000 Krimtataren zurück auf die Krim, die heute rund zwölf Prozent der dortigen Bevölkerung stellen.

Doch seit der Annexion sind sie wieder ins Visier der russischen Behörden geraten: Dutzenden wird unter fadenscheinigen Vorwürfen der Prozess gemacht. Auch der UN-Kommissar für Menschenrechte hält in einem aktuellen Bericht fest, dass Krimtataren "überdurchschnittlich in Razzien und Verfahren verfolgt werden, die alle Menschenrechtsstandards unterschreiten".

Mehr als 70 politische Gefangene zählt die Ukraine derzeit auf der Krim, rund die Hälfte von ihnen Krimtataren. Doch fünf Jahre nach der Annexion ist die Krim aus den Schlagzeilen verschwunden. Selbst, wenn internationale Politiker zur "Ukraine-Krise" tagen, ist die Krim neben dem Krieg im Donbass im Osten oft nur noch eine Fußnote.

Wechselvolle Geschichte

Doch erst unlängst hat Bekirows Tochter Eleonora bei einer OSZE-Konferenz in Wien auf den Gesundheitszustand ihres Vaters aufmerksam gemacht. Zwar hat sich sein Anwalt schon an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gewandt, aber wie viel Zeit mag ihrem schwerkranken Vater noch bleiben? "Jeder Tag könnte sein letzter sein", hat Eleonora auf Facebook geschrieben.

Kaum ein Ort beschreibt die wechselvolle Geschichte der Krimtataren so gut wie Nowoolexijiwka. Das Dorf, das heute an der Grenze zur Krim liegt, wurde schon in den 1960er-Jahren zu einem Zufluchtsort für jene Krimtataren, die auf die Krim zurückwollten, aber von den Behörden wieder vertrieben wurden. Nowoolexijiwka war damals der letzte Eisenbahnstopp auf dem ukrainischen Festland – dort ließen sich die ersten Krimtataren nieder, die aus der Verbannung zurückkamen. "Nowotatarka", das Dorf der Krimtataren, wie es im Volksmund hieß.

Auch heute ist das Dorf wieder ein Rückzugsort für Krimtataren. Offiziell leben heute 5000 von ihnen in dem 12.000-Einwohner-Dorf, unter ihnen jene, die nicht mehr auf die Krim zurückkönnen. Aus Sicherheitsgründen hat auch Edem Bekirow 2014 seinen Wohnsitz hierher verlegt, zuvor lebte er bei seiner Tochter in Simferopol.

Seine Frau Gulnara will derweil nicht aufgeben. Morgen Früh will sie zu einer Konferenz in das 200 Kilometer entfernte Cherson fahren, eine vierstündige Autofahrt über von Schlaglöchern zerfurchte Straßen, um für Unterstützung zu werben. "Ich kann nicht einfach nur hier sitzen und untätig sein", sagt sie. "Aber ich weiß, dass er zurückkommen wird. Ich weiß zwar nicht, wie und wann, aber er kommt wieder zurück. Ganz bestimmt." (Simone Brunner, 21.3.2019)