Masha Gessen (52) schrieb mit "Die Zukunft ist Geschichte" (auf Deutsch 2018 bei Suhrkamp) ein Schlüsselwerk zum Verständnis Russlands.

Foto: Heribert Corn

Masha Gessen hätte selbst nur zu gerne mitgewirkt an einer Neubestimmung Russlands. Mit dem Kollaps des Sowjet-Totalitarismus schien, wenigstens zu Beginn der 1990er, für Millionen von Bürgerinnen die Verwandlung ihrer Heimat in eine waschechte Demokratie möglich. Unwillkürlich fällt einem bei Lektüre von Gessens Jahrhundertbuch "Die Zukunft ist Geschichte" Bertolt Brechts (auf Deutschland gemünzte) Kinderhymne ein. In der Tat: Viele Kinder der Perestrojka-Ära hätten gewiss keine Mühe gespart, dass "ein gutes Russland blühe, wie ein andres gutes Land".

Heute will und kann Gessen – selbst im Besitz zweier Pässe, eines russischen wie eines US-amerikanischen – an Putin-Russland kein gutes Haar lassen. Rechtzeitig zum Start der Buchmesse wurde sie als Grenzgängerin zwischen Literatur und Journalismus jetzt mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung ausgezeichnet.

Was den Russinnen und Russen in ihrer Heimat seit zwei Jahrzehnten blüht, wird Gessen nicht müde zu betonen. Die endlose Herrschaft des Autokraten Wladimir Putin ist auf dem trostlosen Mist der Sowjetunion gewachsen. Auf dem Buckel totalitärer Subjekte, die es gewohnt waren, für jede Eigenmächtigkeit einen Rutenstreich verabreicht zu bekommen. Bis die Sowjetbürgerinnen auf die Fertigkeit vergaßen, ihre Anliegen zu formulieren.

Hoffnung auf Demokratie

Eine Zivilgesellschaft, wie man sie in rechtsstaatlichen Demokratien findet, setzt mündige Bürger voraus. Gessen selbst war vom Glauben an die liberale Demokratie förmlich durchdrungen. Sie hätte anno 1991 auf Wahlen in Russland gehofft: auf individuelle Freiheiten, soziale Bewegungen, auf eine freie Presse und andere Selbstverständlichkeiten. Sie sei eine Träumerin gewesen. Das betont Gessen in Leipzig. Sie scheint heute selbst bass erstaunt über ihre damalige Naivität.

Die persönliche Existenz dieser faszinierenden Persönlichkeit wird man eine transitorische nennen dürfen. 1967 in Moskau geboren, wanderte sie mit ihren jüdischen Eltern, Intellektuelle auch sie, in die USA aus. Von der Ferne nimmt sie heftig Anteil an Gorbatschows unfreiwilliger Liquidierung der Sowjetunion.

Flagge und Blumenkranz

Sie kehrt nach Russland zurück. Sie findet dort ihre Lebenspartnerin, adoptiert einen Buben, schreibt hüben wie drüben für Printmedien. Heute ist Masha Gessen Autorin des New Yorker. Sie lebt unweit des Central Park, ist mit einer Frau verheiratet und hat drei Kinder. Putin, den sie als "Mann ohne Gesicht" in einem Buch kalt und schonungslos porträtiert hat, baumelt in ihrer Wohnung als schwuler Papierhampelmann herum. Den erprobten Tanzpartner von Außenministerin Karin Kneissl schmücken im Hause Gessen Regenbogenflagge und ein schöner Blumenkranz.

Die Schandtat von Russlands intellektueller Kastration ist recht exakt datierbar. 1922 ordnete Lenin die Abschiebung von (je nach Schätzung) zweihundert oder mehr Intellektuellen ins Ausland an, darunter Ärzte, Ökonomen und Philosophen. Die barbarische Operation erhielt den beschönigenden Titel "Philosophenschiff", obgleich mehrere Schiffe im Spiel waren. Die Abschiebungen wurden als humane Alternative zur Todesstrafe deklariert. Tatsächlich mussten markante Geistesköpfe unter Lenins Nachfolger Stalin wegen potenzieller Illoyalität mit Genickschüssen oder Deportation rechnen.

Dem konzertierten Angriff der Bolschewiken fielen nacheinander die Geisteswissenschaften zum Opfer. Ganze Disziplinen wurden verbannt oder marxistisch-leninistisch in Grund und Boden theoretisiert. Der sowjetische Totalitarismus sorgte – ganz entgegen seiner Ideologie – aufgrund absurder Privilegien nicht nur für horrende Ungleichheit. Er beraubte seine Bürgerinnen ihres kostbarsten Guts, ihrer authentischen Sprache.

Mittel der Selbstverständigung

Und so rekonstruiert Masha Gessen in "Die Zukunft ist Geschichte" etwas, was für ihresgleichen nicht vorhanden war: legitime Mittel der Selbstverständigung. In Wahrheit habe sie über eine "Abwesenheit schreiben" müssen. Denn anstatt einander Geschichten über die Vergangenheit zu erzählen, um sich von ihr zu lösen, leben Russlands Bürger in ihrem verblassenden Bann weiter, heute mehr denn je.

Geschichte aber, die nicht erzählt wird, weigert sich, der Zukunft Platz zu machen. Die blassgraue Zwischenzeit wird von Putin verwaltet. Es schlägt die Stunde der organisierten Kriminalität, der Geheimdienste, der Rückkehr zu den "nationalistischen Werten". In diesem Spannungsfeld bleibt Masha Gessen die vielfach angefeindete Hauptfigur einer unverzichtbaren, weil kosmopolitischen Freiheitsliebe. (Ronald Pohl, 22.3.2019)