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Sensation, die außerhalb Finnlands nur schwer nachzuvollziehen ist: Esa Pulliainen, Bandchef der Agents, fand beim Aufräumen ein paar verschollene, von Rauli Somerjoki besungene Demokassetten, die er mit Ville Valo von den Goth-Rockern HIM (His Infernal Majesty) eingespielt hat.

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Somero ist ein kleiner, außergewöhnlich scheußlicher Ort im Süden Finnlands, er hat etwa 9000 Einwohner, und das Stadtwappen ziert ein brennender Baumstumpf. Die Bedeutung Someros als musikalisch identitätsstiftend für Finnland kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Drei Bewohner haben dazu beigetragen, jedes Kind kennt sie, zwei davon sind allerdings bereits tot, der eine war Unto Mononen. Seine Geschichte muss vorangestellt werden, weil sie so wichtig ist für alles Kommende.

Mononen hat das bekannteste, beliebteste und das Land und das Volk am besten repräsentierende Lied Finnlands geschrieben, Satumaa heißt es, naturgemäß ein Tango. Satumaa, übersetzt "Märchenland", handelt von einem ominösen Traumland jenseits des Meeres, nach dem der Sänger sich sehnt und in dem seine Geliebte für ihn unerreichbar ist, "ach, wenn ich doch nur einmal fort in das Märchenland könnte".

1955 schrieb Unto Mononen das, womit sich ganz Finnland eher identifizieren kann, als mit der staatlich verordneten Nationalhymne Maamme (Unser Land), die sie auch noch mit ihren kleinen Verwandten, den Esten, teilen müssen. Gleiche Melodie, etwas anderer Text. Maamme ist noch dazu ursprünglich auf Schwedisch geschrieben, die Sprache der ehemaligen Besatzer und herrschenden Oberschicht.

Viele Finnen plädieren deshalb dafür, dass Satumaa, die Schattenhymne, zur offiziellen wird. Der bekannteste Interpret des Liedes war und ist Reijo Taipale, der, als er mal gefragt wurde, ob denn das Märchenland nicht der Tod sein könnte, fürchterlich erschrak, um nach einer längeren Pause schließlich zu erklären, dass das Paradies gemeint sei.

Singender Hase

Tangokenner behaupten, er sänge es seither anders. Selbst Frank Zappa hat, anthropologisch informiert und interessiert, bei seinem Konzert 1974 im Kulttuuritalo in Helsinki das Lied gebracht. Zu hören auf You Can't Do This on Stage Anymore, wo er sich zu allem finnaffinen Überfluss auch noch Jukka nennt, es beginnt eigenartigerweise mit den Worten "Bouillabaisse, Bouillabaisse, Bouillabaisse, Stroganoff, Bouillabaisse, Here we go ...", weil Jukka Zappa sich gewundert hat, dass in seiner Fischsuppe am Vorabend nebst Augen auch allerlei Fischgekröse schwamm, etwas, was er aus seiner Heimat nicht kannte und was ihn so einnahm vom Exotismus dieses an Exotismen nicht armen Landes. Mononen hat sich 1968 erschossen, ob aus Versehen oder Vorsatz ist bis heute nicht geklärt.

In Unto Mononens Orchester spielte Mauri Antero Numminen Schlagzeug, ebenfalls aus Somero, ein inzwischen 79-jähriger Kindskopf, er erlangte später Bekanntheit als singender Soziolinguist und Esperantist, und sein mit Unto Mononen geschriebener Tango Naiseni kanssa eduskuntatalon puistossa (Mit meiner Braut im Parlamentspark) war im Radio sechs Jahre lang verboten, da der Text das finnische Parlament verunglimpfe und zum Alkoholmissbrauch aufrufe.

Auch tritt er als banjospielender, singender Hase im Kinderfernsehen auf, nun, er singt nicht direkt, eher krächzt er, und eine seiner ersten Kompositionen, Eleitä kolmelle röyhtäilijälle (Gebärde für drei Rülpser), hat einen komplett gerülpsten Text.

Auf die Frage, warum ausgerechnet der Tango für Finnland so konsensuell ist, sagt er: "Tango ist eine Art Therapie der Volksseele. Deshalb beschwören die meisten Tangos Unglück und Trauer. Weil wir eine schweigsame Kultur sind, sind die Texte unserer Lieder umso wichtiger. Wir tanzen eigentlich zu den Texten, nicht zur Musik. Sie drücken aus, was wir fühlen, aber nicht aussprechen können."

Geträumte Melodien

So liegt es auf der Hand, warum es Numminen auch Ludwig Wittgenstein angetan hat, dessen Tractatus logico-philosophicus er 1966 vertonte ("Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen"), er fände, wie er sagt, "seine Philosophie einfach verlockend und wichtig", als Poesie und Wissenschaft gleichermaßen, vor allem sein Tractatus, es sei eine verführerische Kombination, es fange mit logischen, vernünftigen Sätzen an und mäandere in metaphysischen Gedanken aus.

Sein bester Freund ab 1965 in Somero war ein trauriger Rock 'n' Roller namens Rauli "Badding" Somerjoki (Numminen erklärt den Spitznamen: "Rauli hat sich so verstanden, dass es etwas Böses in ihm gab. Darum Bad in 'the bad thing in him', und ich hab das eben verniedlicht in sowas wie Darling, weil er ja nicht wirklich böse war").

Auch er ein Sänger, der aber im Gegensatz zu Numminen kein Instrument beherrschte, zu ihm lief Somerjoki stets, wenn er eine Melodie geträumt hatte, er pfiff sie dann ohne Unterlass, um sie nicht zu verlieren, während er ins Haus des Freundes eilte oder im Bus fuhr, Numminen sollte das dann umsetzen, einmal, an einem nasskalten, dunklen Februarmorgen des Jahres 1971 träumte er wieder eine Melodie, die dann später Valot (Lichter) heißen sollte, Licht als Freund, Trostspender und Lebensretter, das die strangulierenden Schatten bannt.

Mit Numminen nahmen sie ein Demo auf, aber nicht für sich, sondern für ihr Idol Elvis Presley, den feisten King, beide waren überzeugt davon, dass nur er es so gebrochen pathetisch bringen könnte, wie sie sich das vorstellten, sie schickten das Demo nach Memphis und hörten nie wieder etwas davon, Elvis hat vermutlich nicht mal gewusst, wo oder gar was Finnland ist (das ist ein Unterschied zwischen Zappa und Elvis), stattdessen nahmen sie es enttäuscht mit Rauli als Sänger auf, und das wurde dann ein großer Hit im Land, bedauerlicherweise nur dort.

Für ein paar Jahre war seine Begleitband The Agents, sicher die wichtigste Band Finnlands, der wehmütige Sound, den Bandchef Esa Pulliainen spielt, trifft ebenso wie der Tango einen bestimmten Nerv der Finnen, er löst etwas aus, eine Erinnerung an eine Zeit nach dem Krieg, als die Deutschen abzogen und das Land verwüstet und niedergebrannt der Sowjetunion überließen, die sich zur Strafe erstmal große Teile Kareliens einverleibte und nur deshalb nicht auch noch den Rest des Landes, weil Finnland zum eigenen Schutz die Neutralität annahm – das Land verfiel in so eine Art Duldungsstarre gegen das gefräßige kommunistische Riesenreich.

Im Märchenland

Und in dieser Zeit entwickelte sich eine große Sehnsucht nach Amerika, stärker als sonstwo in Europa. Amerika, das Märchenland, das so weit weg ist, man war Rock 'n' Roll, riesige amerikanische Straßenkreuzer, Plymouth Furys, Muntz Jets, Pontiac Bonneville Broughams, Kaiser Kustom Kars und Studebaker Commander Starliner glitten und tun es immer noch aus den finnischen Wäldern in die Städte, in denen sie ihre Runden drehen, und die Musik dazu ist eben so eine verwehte, sehnsüchtige Shadows-Gitarre, wie sie Esa Pulliainen in Perfektion spielt, auch wenn die Shadows keine Amerikaner, sondern Briten waren, mit starkem Hang zum amerikanischen Western ("Apache").

Dieses sogenannte "twangling", das man andernorts auch von Chris Isaak kennt, Wicked Game, in Finnland ist dieser Sound ein Haushaltsgegenstand, schon immer da und nie weg gewesen, viele Finnen sind davon überzeugt, Isaak hätte seinen Stil von hier her.

Valot gehört wie Satumaa zum finnischen Musikkanon, aber Rauli hatte immer so eine große Angst vor Auftritten, Angst vor den Erwartungen des Lebens generell, ist Berufsalkoholiker geworden und 1987 mit 39 gestorben, auch wenn Elvis nur drei Jahre älter wurde, hat Rauli ihn zehn Jahre überlebt. Raulis Mutter hat ihn eines Morgens tot im Bett gefunden, wahrscheinlich, so Numminen, hat er eine letzte Melodie, die vom Märchenland, geträumt.

Die Agents hatten in der Folge wechselnde Sänger, und immer wenn einer starb, zuletzt der großartige Topi Sosakoski mit Klobrillenbart, kam ein neuer, zuletzt war es Ville Valo von den Goth-Rockern HIM (His Infernal Majesty), seiner Band, die er vor zwei Jahren zum nicht geringen Verdruss Heerscharen junger Mädchen, für die Ville der dunkle, dünne Prinz der Finsternis ein Idol war, auflöste.

Dumpf wie aus dem Grab

Am 25. Februar dieses noch jungen Jahres erschien nun eine Agents-Platte, deren Sensation außerhalb Finnlands nur schwer nachzuvollziehen ist und zu der dieser kleine Text ein bisschen an Aufklärung verhelfen möchte. Esa Pulliainen hat nämlich beim Aufräumen verschollene, von Rauli besungene Demokassetten gefunden und sie mit Ville eingespielt und -gesungen, was sogleich Finnlandnovizen in Onlinerezensionen schnauben lässt: "Hier ist nichts mehr vorhanden, was Ville Valo einst ausgemacht hat. Die Stimme völlig belanglos, das geheimnisvolle und anziehende 'Etwas' völlig verschwunden, und die Musik klingt, als hätte sich ein griechischer Schlagersänger in einen finnischen Jazz-Club verirrt."

Und hier lächelt der Connaisseur wissend, weil Villes "Etwas", also diese sehnsüchtige Romantik seines Timbres, stimmungsmäßig so dermaßen ununterscheidbar zu dem, was er mit HIM gemacht hat, ist, dass nur diejenigen, die es nicht wollen, auch nicht hören, und das Bild eines griechischen Schlagersängers (Demis Roussos) in einem finnischen Jazz-Club, in dem vielleicht gerade Satumaa gespielt wird, trifft die ganze Atmosphäre ziemlich präzise.

Etwa wenn Ville in den melancholischen Worten Raulis vom "Orpolapsi kiurun" singt, dem Waisenkind einer Feldlerche, und wenn dann in der Mitte des Liedes plötzlich die gebrochene Stimme Raulis erklingt, direkt vom Demo genommen, dumpf wie aus seinem Grab, läuft's einem kalt den Rücken runter, ein morbider Moment, den HIM nicht besser hinbekommen hätten.

In Raulis Lieblingslokal, im Ravintola Kivi (vormals Grilli Bertina), einer Dünnbierbar (Keskiolutbaari) in der Kivinkatu, im proletarischen Viertel Kallio Helsinkis, ist noch alles beim alten, ein schäbiges Rückzugsgebiet des Glücks, hier hängt zum Gedenken an den Stammgast Raulis Foto an der Wand, die dicke Brille, das dünne Haar, das verquollene, ernste Gesicht, die Jukebox ist voll von seinen schwermütigen Liedern, da wohnt er jetzt als "Geistermann", das ist nun "seine metaphysische Existenzwiese", wie sein alter Freund Numminen erklärt.

Anzunehmen ist, dass jetzt auch das Waisenkind der Feldlerche dort jedem Abend ihr trauriges Lied singt. (Tex Rubinowitz, 23.3.2019)