Gertrud Bodenwieser: Sie machte in Australien Karriere.

Foto: Theatermuseum

Der Abend des 14. November 1922 im Großen Saal des Wiener Konzerthauses hatte es in sich. Getanzt wurden Cocain, Selbstmord oder Haus der Irren, womit die deutsche Tänzerin Anita Berber und ihr Partner Sebastian Droste einen handfesten Skandal entfesselten. Dass Wien in der Zwischenkriegszeit zu den Brennpunkten des freien Tanzes in Europa gehörte, beweist jetzt eine fabelhafte Ausstellung im Theatermuseum: Alles tanzt. Kosmos Wiener Tanzmoderne.

Kuratiert hat diese konzentrierte und doch locker komponierte Schau die Tanzhistorikerin Andrea Amort. Ihrer Forschungstätigkeit ist zu verdanken, dass Wien langsam etwas über einen der am längsten verschwiegenen Abgründe seiner Geschichte lernt: Wie es den Nazis gelungen war, eine ganze Kunstgattung so zu vernichten, dass sie erst Ende der 1970er wieder neu aufkam. Alles tanzt lüftet den Schleier um das Verdrängte jetzt mit Filmen, Fotos, Dokumenten und einem beeindruckenden Text-Bild-Band. Ausschlaggebend ist da der scharfe Blick hinter das Geschehen auf den Bühnen. Erstens war der freie Tanz vor 1938 – und ist es auch heute noch – eine echte Frauendomäne. Vielleicht wird er ja deswegen von der traditionell herrendominierten Kulturwelt anhaltend mit Geringschätzung bedacht.

Tanzgeschichte

Und zweitens war in der Tanzszene ein hoher Anteil jüdischer Künstlerinnen und Künstler aktiv. "Mindestens 80 Prozent", sagt Amort. Mehr als 200 von ihnen wurden vertrieben oder ermordet. Nach 1945 zeigte Wien kein Interesse, sich um die vertriebenen Tanzschaffenden zu bemühen. Amort hat es geschafft, in der dynamischen Ausstellungsarchitektur von Thomas Hamann spannende Zusammenhänge zwischen der internationalen und der österreichischen Tanzmoderne herzustellen.

Sie verknüpft die tanzgeschichtliche Darstellung darüber hinaus mit Präsentationen von Arbeiten zeitgenössischer Wiener Choreografie. So kann sich das Publikum über die Gegenwart zurück in die Vergangenheit versetzen und lernt Kulturschaffende kennen, deren Namen es bisher kaum oder nie gehört oder gelesen hat. Wer kennt etwa Cilli Wang, das österreichische Pendant zur deutschen Avantgardistin Valeska Gert? Oder Gertrud Bodenwieser, die später in Australien Karriere machte?

Serpentinentänzerin

Oder wem ist Hanna Berger ein Begriff, die sich aktiv am Widerstand gegen das NS-Regime beteiligte? Bekannt blieben nur die Schwestern Wiesenthal, diese Virtuosinnen der Leichtigkeit, und Rosalia Chladek als Brücke in die Nachkriegszeit. Die Wiener ab der Jahrhundertwende liebten den freien Tanz. Für Aufführungen in Häusern bis zu 600 Plätzen hieß es regelmäßig: ausverkauft. Kein Wunder, war doch etwa die legendäre "Serpentinentänzerin" Loïe Fuller hier bereits 1898 aufgetreten.

Isadora Duncan, die treibende Kraft der Tanzmoderne, hatte in Wien ihren ersten kontinentaleuropäischen Auftritt. Sie lieferte den Anstoß für Grete Wiesenthal, bei der Hofoper zu kündigen und ihre eigene Kunst zu machen. Anita Berber, Expertin für "Laster und Grauen", war 1917 da, Mary Wigman kam 1923, die gefeierte Ballerina Anna Pawlowa gab sich 1927 jazzig. Ja, und im Jahr darauf ließ Josephine Baker Wiener Herzen höherschlagen.

Verbunden mit der Ausstellung ist – ab 29. März bis Februar 2020 – ein reichhaltiges Aufführungs- und Lecture-Programm. (Helmut Ploebst, 22.3.2019)