Marie Claire Villeval ist Ökonomin am National Center for Scientific Research und Mitglied der renommierten Groupe d'Analyse et de Théorie Economique an der Universität Lyon. Sie war auf Einladung des Vienna Behavioral Economics Network zu Gast in Wien.

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Hinterziehen wir Steuern aus einem falschen Gerechtigkeitssinn heraus? Wieso können Fondsmanager das Blaue vom Himmel versprechen und trotzdem willige Investoren finden? Wieso sind Frauen die besseren Teamplayer, werden von Firmen aber nicht dafür belohnt? Die französische Verhaltensökonomin Marie Claire Villeval erzählt, wie sie den Menschen in seinem Habitat erforscht – zwischen Kooperation und Egoismus, allein oder in der Gruppe.

STANDARD: Sie haben einmal in einer Studie über ethisches Verhalten Teilnehmer in Fans von Paul Klee und Wassily Kandinsky unterteilt. Wozu?

Villeval: Wir erzeugten damit künstlich Gruppenidentität. Es gibt natürliche Identitäten, wie die Herkunft oder die Schule, aber im Labor müssen wir das kontrollieren. Also haben wir die Vorlieben zu Bildern dieser zwei Künstler abgefragt und die Leute dann jeweils einer Gruppe zugeteilt. Dann mussten sie anonym in Spielen um Geld gegeneinander antreten. Wir sagten ihnen nur, ob ihr Gegenüber auch Klee- oder Kandinsky-Fan ist.

Paul Klee (im Bild) oder lieber Kandinsky? Marie Claire Villeval teilt ihre Probanden gern nach deren Kunstgeschmack ein.
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STANDARD: Und wie kommt die Ethik ins Spiel?

Villeval: Jeder will gewinnen, manche greifen zu unfairen Mitteln. Wir wollten wissen, ob die Spieler fairer gegen Mitglieder ihrer Gruppe spielen. Das war nicht der Fall. Der Drang, zu gewinnen, hat die Gruppenzugehörigkeit übertrumpft.

STANDARD: Populisten instrumentalisieren Gruppendenken, indem sie gegen Außenseiter wettern. Ist das gar nicht nicht so effektiv?

Villeval: Es kommt auf das Umfeld an. Wir sehen, dass der Gruppeneffekt stark bei sozialem Verhalten auftritt, jemanden eine Wohnung zu verschaffen etc., da spielt die Identität eine Rolle, wenn sich jemand diskriminierend verhält.

STANDARD: Heißt das, Wettbewerb führt zu weniger Diskriminierung?

Villeval: Wer betrügt, diskriminiert nicht. Wir waren wirklich überrascht von diesem Ergebnis. Die Lektion: Wettbewerb kann effektive Zusammenarbeit selbst dann untergraben, wenn man versucht, Teamgeist zu schaffen.

STANDARD: Sie erforschten jüngst Ehrlichkeit in der Anlageberatung.

Villeval: Ja, wir haben uns gewundert, dass Investoren oft fantastische Gewinnversprechen von Portfoliomanagern glauben. Einerseits sind manche Kunden sehr naiv und überoptimistisch. Andererseits könnten Projektmacher das ausnützen. Also haben wir ein Spiel gemacht, bei dem Teilnehmer entweder als Projektmanager oder als Investoren auftreten. Die Manager wissen über die Erfolgschancen ihrer Projekte Bescheid, die Investoren haben keine Ahnung. Die Manager können ehrlich sein oder ihre Gewinnchancen übertreiben, um Investoren anzulocken. Wieder geht es um den Effekt von Wettbewerb. Wir haben erwartet, dass durch Konkurrenz die Manager ehrlicher werden, weil ihre Kunden sich an einen anderen wenden können, wenn sie hinters Licht geführt wurden. Diese Option hätten die Kunden bei nur einem Anbieter nicht. Aber das war nicht so: Im Wettbewerb wurden die Manager noch gieriger und verhielten sich unehrlicher.

STANDARD: Was kann man tun?

Villeval: Wir brauchen bessere Mittel, um die Reputation von Managern zu etablieren. Das heißt, mehr Transparenz darüber, wie sehr die reale Entwicklung von der Ankündigung abweicht. Dann wären Kunden besser vorbereitet, wenn man ihnen tolle Gewinne in Aussicht stellt.

"Wir haben uns gewundert, dass Investoren oft fantastische Gewinnversprechen von Portfolio-Managern glauben."
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STANDARD: Sie haben auch Steuerhinterziehung erforscht, indem Sie Studienteilnehmern ein Einkommen gaben, das sie versteuern mussten. Dabei zeigte sich, es geht nicht nur um Gier und die Angst, erwischt zu werden.

Villeval: Ja, soziale Normen spielen eine Rolle. Wir wollten wissen, wie sich Leute verhalten, die wir vorher über bisheriges Verhalten informieren. Interessanterweise ist das sehr ungleich: Wer über positive Vorbilder Bescheid weiß, lässt sich dadurch nicht zu mehr Steuerehrlichkeit motivieren. Wer aber das Ausmaß bisheriger Steuerhinterziehung kennt, nimmt das eher als Ausrede für eigenes Fehlverhalten.

STANDARD: Wenn ich angebe "95 Prozent zahlen Steuern", kommt bei machen an "Fünf Prozent hinterziehen, das könnte ich sein".

Villeval: Das wirkliche Rätsel ist, nicht nur die monetären Kosten, sondern auch moralische Kosten. Emotionen spielen eine Rolle.

STANDARD: Inwiefern?

Villeval: Steuern zu hinterziehen erregt Emotionen, das haben wir gemessen. Menschen die emotionaler auf eine Steuerprüfung reagieren, sind beim nächsten Mal ehrlicher. Aber das Ganze ist komplizierter. Einerseits wirken soziale Emotionen, wie Scham, abschreckend auf unehrliches Verhalten. Aber wir haben auch gesehen, dass ehrliche Personen nach einer Kontrolle unehrlicher werden. In einem Feldexperiment beobachten wir Leute im Bus mit einem gültigen Fahrschein nach einer Kontrolle. Nachdem sie ausstiegen, hielt ihnen ein Schauspieler einen Geldschein hin und fragte: "Haben Sie den verloren?" Nach einer Fahrscheinkontrolle waren die Leute eher bereit zu lügen und das Geld einzustecken.

STANDARD: Wie wirkt sich das soziale Umfeld aus?

Villeval: In unseren Versuchen sehen wir, dass Leute mehr Steuern hinterziehen, wenn sie erfahren, dass andere Leute ohne erkennbaren Grund mehr verdienen als sie selbst. Also versuchen sie, die Einkommen durch Steuerbetrug etwas anzupassen.

Teams arbeiten effizienter, aber auch egoistischer, stellten die Verhaltensforscher fest.
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STANDARD: Großkonzerne stehen in der Kritik weil sie – ganz legal – Steuern vermeiden. Ihre Studie suggeriert, dass so ein Verhalten die Steuerehrlichkeit in der Gesellschaft negativ beeinflussen könnte.

Villeval: Ja, wenn sich Menschen betrogen fühlen, leidet der gesellschaftliche Zusammenhalt. Ähnlich ist das mit Anführen im Team und welches Vorbild sie abgeben.

STANDARD: Apropos, Ökonomen betonen gern, wie wertvoll Teamwork ist. Wer schon einmal im Studium eine Gruppenarbeit geschrieben hat oder Erfahrung mit Gemeinschaftsprojekten im Büro hat, ist da vielleicht skeptisch. Wer hat recht?

Villeval: Unsere und andere Studien haben gezeigt, dass Gruppen sehr gut darin sind, kognitive Verzerrungen der einzelnen Mitglieder auszugleichen. Was wir aber auch sehen, Teams sind egoistischer.

STANDARD: Inwiefern.

Villeval: Nehmen wir ein sogenanntes Diktator-Spiel: Sie haben zehn Euro, und sie können entscheiden, wie die Summe zwischen Ihnen und einer anderen, anonymen Person aufgeteilt wird. Wenn Gruppen darüber entscheiden, behalten sie mehr Geld für sich.

STANDARD: Teams sind also egoistischer als Ganzes, sie ziehen aber auch Trittbrettfahrer an. Wie geht man damit am besten um?

Villeval: In der Tat, bei Experimenten sind es rund 30 Prozent der Leute, die sich durch die Leistung anderer mittragen lassen. Die Mehrheit kooperiert bedingt: Sie leisten also mehr, wenn Team im Durchschnitt auch härter arbeitet, und umgekehrt. Kommunikation ist sehr effektiv gegen Trittbrettfahrer, aber weniger in Gruppen, die ungleich sind.

STANDARD: Was meinen Sie mit ungleich?

Villeval: Wenn manche unterschiedlich stark von ihrer Teilnahme in einer Gruppe profitieren. Wenn ich zum Beispiel viel Auto fahre, habe ich mehr von der Erhaltung öffentlicher Straßen. Aber wer kein Auto hat, ärgert sich vielleicht darüber, wenn zusätzliche Mittel in den Straßenbau fließen. So kann es zu Konflikten von Normen kommen.

STANDARD: Welchen Normen sind das?

Villeval: Der Effizienzgedanke sieht vor, dass alle nach Kräften etwas beitragen und den gesamten Kuchen so groß wie möglich machen. Das führt aber gleichzeitig zu maximaler Ungleichheit. Auf der anderen Seite steht der Gleichheitsgedanke, dass alle dasselbe bekommen, auch wenn dann der gesamte Kuchen kleiner wäre. Wir haben in Experimenten getestet, welche Norm sich in ungleichen Gruppen durchsetzt.

STANDARD: Das beschreibt den klassischen Konflikt in einer Gesellschaften, wie viel umverteilt werden soll.

Villeval: Genau, wir haben das in unserem Versuch nachgestellt und die Option von Belohnungen hinzugefügt. Dadurch würden manche Gruppenmitglieder mehr verdienen, aber nur, wenn alle vollen Einsatz leisten. Aber da die Teilnehmer ihre Strategie vorab besprechen konnten, hatten sie die Option, zuerst den Kuchen zu maximieren und in einem zweiten Schritt die Belohnung der reichsten Gruppenmitglieder fair auf alle aufzuteilen. Mehr als zwei Drittel der Gruppen denkt nicht an diese Option. Sie bevorzugen gleiche Einkommen von Anfang an, auch wenn dann der Kuchen kleiner ist und sie einen größeren Kuchen gerecht hätten aufteilen können.

STANDARD: Sie waren auch eine der Ersten in Ihrem Feld, die erforscht haben, dass Frauen die besseren Teamplayer sind ...

Villeval: Frauen knüpfen solche Entscheidungen eher an Bedingungen. Sie sind nicht systematisch großzügiger. Aber wir haben festgestellt, dass sich Frauen eher vor Wettbewerb drücken, sie lieber in Teams arbeiten, als Männer.

STANDARD: Warum ist das so?

Villeval: Wir haben uns angeschaut, ob Frauen lieber als Team bezahlt werden oder individuell. Wir stellten fest, dass Frauen lieber im Team entlohnt werden, weil sie die Fähigkeiten ihrer Gruppenmitglieder höher einschätzen als Männer. Außerdem hat sich gezeigt, dass besonders qualifizierte Frauen willens sind, in Teams mitzumachen, um Ungleichheiten zu bereinigen, selbst wenn sie dadurch weniger verdienen. Frauen verteilen mehr um und, wie Forscher gezeigt haben, sie übernehmen auch häufiger freiwillige Tätigkeiten, die sie selber nicht begünstigen.

"Frauen sind nicht systematisch großzügiger", erklärt die Ökonomin. Sie hat in ihrem Feld bereits früh Geschlechterunterschiede erforscht.
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STANDARD: Für solche Geschlechterunterschiede gibt es meist zwei Erklärungsversuche: Auf der einen Seite wird die Rolle des sozialen, kulturellen Einflusses betont und wie patriarchale Strukturen Geschlechterrollen prägen. Auf der anderen Seite werden natürliche Unterschiede ins Feld geführt. Was ist Ihre Erfahrung?

Villeval: In der Tat gibt es Anhaltspunkte für beide Erklärungsmodelle. Unterschiede im Konkurrenzdenken stellen wir schon bei Dreijährigen fest. Das unterstützt eher die biologische Prägung. Wir haben auch unterschiedliche Einstellungen zum Wettbewerb während des Menstruationszyklus beobachtet. Auf der anderen Seite gibt es matriarchale Gesellschaften, in denen das Konkurrenzdenken genau umgekehrt auftritt. In China sind Frauen und Männer gleich kompetitiv – alles Hinweise auf kulturelle Prägung. Es ist wohl ein Mix.

STANDARD: Wie soll man mit solchen Ungleichheiten umgehen?

Villeval: Nichtentlohnte Arbeit aufzuteilen ist wichtig. Aber schon die Bewusstseinsbildung hilft. Wenn man Gruppen oder Komitees besetzt, kann man Geschlechterungleichheit vermeiden. In einem von Männern dominierten Feld fallen einem natürlich zuerst männliche Kandidaten ein, das ist nicht zwangsläufig Diskriminierung, man ist einfach unachtsam. Wenn man sich einer ungleichen Lage bewusst ist, kann man sich leichter auf eine bessere Balance einigen.

STANDARD: Sind Sie für Frauenquoten?

Villeval: Quoten helfen dabei, einen Wandel hervorstechen zu lassen. Es ist wichtig, die Leute an große und ineffiziente Unterschiede zu erinnern. Danach kann man Quoten abbauen.

STANDARD: Sehen sie einen Konflikt durch Quoten, dass damit Leistungen von Frauen geringer geschätzt werden?

Villeval: In der Tat könnte die Idee entstehen, dass Quoten zu künstlicher Ungerechtigkeit führen. Darum sollten sie auch nicht zu lange bestehen.

STANDARD: Wo doch Teamwork so effektiv ist, warum befördern gewinnorientierte Unternehmen nicht verstärkt Frauen?

Villeval: Firmen setzten zwar auf Teamwork, aber auch auf Konkurrenzdenken. Wenn Frauen sich nicht mehr um Beförderungen reißen, weil sie mit mehr undankbaren Aufgaben eingedeckt sind oder mehr im Haushalt übernehmen, akkumulieren sich Ungleichheiten mit der Zeit. Sie haben dann vielleicht erfolgreichere Teams, aber weniger erfolgreiche einzelne Frauen. Das ist also auch ein Aufruf an Frauen, sich mehr um Beförderungen zu bemühen, und gleichzeitig an Firmen, die undankbaren Aufgaben besser im Blick zu haben.

STANDARD: Gibt es etwas in Ihrem Forschungsfeld, der Verhaltensökonomie, das im allgemeinen eher missverstanden wird?

Villeval: Unsere Methoden. Wir machen viele Laborexperimente, und viele glauben nicht, dass unsere Ergebnisse auf die reale Welt übertragbar sind. Wir müssen daher besser vermitteln, wie viel wir machen, um die Ergebnisse robuster zu machen – wir replizieren Studien, gehen ins Feld etc. Vieles im Bereich der Kooperation und der Konkurrenz zwischen Menschen ist schon sehr gut erforscht. (slp, 24.3.2019)