Claudia Gamon im Wahlkampf für die Neos. Sie will direkte Mitbestimmung der EU-Bürger bei wichtigen Themen.

Foto: APA/Fabian Böhm

Am meisten stört Gamon die Trägheit der EU. "Im schlimmsten Fall kommt es zu einer Blockade, im besten Fall zu einer Entscheidungsfindung im Schneckentempo."

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Im Wahlkampf ist Claudia Gamon in ihrem Element. Die 30-Jährige wird die Neos in die EU-Wahlen am 26. Mai führen. Die Kampagne ist auf sie zugeschnitten, sie ist nicht nur die jüngste Kandidatin, sie ist auch die einzige Frau unter den Spitzenkandidaten. 8,1 Prozent erreichten die Neos 2014 – ein Ergebnis, das die Pinken übertreffen wollen.

Die Neos gelten als europaeuphorisch, die Liebe zur EU soll aber nicht im Vordergrund stehen, um Skeptiker nicht abzuschrecken. Ein gespaltenes Verhältnis zur EU ist in Österreich schon fast Tradition, die Wahlbeteiligung lag 2014 bei 45,3 Prozent. Dass diesmal wieder nur jeder Zweite zur Wahl gehen wird, bezweifelt Gamon. Sie ortet dank Brexits eine "Aufwärtsphase der Sympathie für die EU". Das sei aber das einzig Gute, was sie dem Brexit abgewinnen könne: Es sei den Menschen auf brutale Art und Weise vorgeführt worden, wie stark die Verflechtungen der Mitgliedstaaten mit der EU seien.

Mehr, nicht weniger Demokratie

Defizite sieht sie dennoch, ihr Befund: Es braucht mehr Demokratie, nicht weniger. "Ich kann verstehen, dass die Menschen hier eine Ohnmacht empfinden." Dazu müssten aber die Institutionen weiterentwickelt werden. Ihr schwebt eine Direktwahl des Kommissionspräsidenten vor: "Auf dem Papier wird im EU-Parlament der Kommissionspräsident gewählt, in Wahrheit entscheidet das aber der Vorstand der Europäischen Volkspartei und nicht die Bürger."

STANDARD: Über welche Themen sollen die Bürger entscheiden können?
Gamon: Etwa über die Frage nach einer europäischen Asylbehörde. Das hätte man vor drei Jahren fragen können und ein klares Votum erzielt.
STANDARD: Darauf konnten sich doch die Staatenchefs nicht einigen.
Gamon: Die Weigerung Einzelner verhindert auch den Erfolg der anderen. Es geht um Organisatorisches, nicht um Inhaltliches. Wo soll man Asyl sonst regeln, wenn nicht auf europäischer Ebene. Das ist ja keine Herausforderung, die an der Landesgrenze aufhört.

Auch europäische Volksabstimmungen sollen möglich sein, damit Unionsbürger das Gefühl haben, bei großen Fragen mitbestimmen zu können. Die Betonung liegt für die Vorarlbergerin auf großen Fragen: Die Onlineumfrage über die Einführung der Sommerzeit hält sie für ein unglückliches Beispiel direkter Mitbestimmung. "Das war ein falsches Bauchgefühl der politischen Entscheidungsträger."

Ändernde Allianzen

Dass sich bei der Debatte um die Asylpolitik die erstarkenden Rechtspopulisten durchsetzen könnten, glaubt die Neos-Spitzenkandidatin nicht: "Es ist ja im Interesse der Staaten mit Außengrenzen. Da ändern sich schnell die Allianzen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass dann Italiens Innenminister Matteo Salvini noch mit Ungarns Premier Victor Orbán einer Meinung ist."

Die Neos sind teil der Liberalen Fraktion (Alde). Für die Wahl haben sie eine Allianz mit Emmanuel Macrons En Marche geschlossen. Frankreichs Präsident schrieb kürzlich einen Brief an Bürger mit seinen Visionen für Europa. Den Grundgedanken trägt Gamon mit, alle Vorstellungen teilt sie aber nicht mit dem sozialliberalen Hoffnungsträger.

STANDARD: Macron hat viele Überlegungen für die Sozialunion formuliert. Stimmen Sie mit ihm überein?
Gamon: Die Idee einer europäischen Sozialversicherungsnummer finde ich sehr gut. Das wäre eine massive Reform, ohne in die nationale Sozialpolitik einzugreifen.
STANDARD: Und der europäische Mindestlohn?
Gamon: Das ist nicht vernünftig. Wir werden den Menschen in den neuen Mitgliedstaaten, die zu wenig verdienen, so nicht helfen. Das würde schlagartig die Wettbewerbsfähigkeit zusammenhauen. Es ist sinnvoller, mit Regionalpolitik gegenzusteuern und in Infrastruktur zu investieren. Das eröffnet für Junge nachhaltige Chancen.

Was sie aber am meisten am aktuellen Zustand der EU stört, ist die Trägheit. "Im schlimmsten Fall kommt es zu einer Blockade, im besten Fall zu einer Entscheidungsfindung im Schneckentempo." Die europäische Politik sei dem Rat verpflichtet und damit auch den einzelnen Regierungschefs. Es brauche aber mehr Tempo. Die Kommission soll nur noch halb so groß sein und der direktgewählte Kommissionspräsident einer richtigen EU-Regierung vorstehen. Dadurch können Strategien zur Bekämpfung des Klimawandels oder die Organisation des Grenzschutzes rascher bewerkstelligt werden.

Steuerpolitik für Klimaschutz

Dass ausgerechnet die Neos als unternehmerfreundliche Partei den Klimaschutz entdeckt haben, sieht sie nicht als Widerspruch. Auch die Wirtschaft müsse mitmachen. Gamons Vorschlag: Weniger Steuern auf Arbeit, dafür CO2 besteuern. Steuerpolitik sei das stärkste Instrument, das müsse genutzt werden. Das Verursacherprinzip sei ein Anreiz für die Industrie, Produktionsprozesse klimafreundlicher zu gestalten. Das soll dabei helfen, dass Europa wieder zu einem Ort wird, an dem Innovation passiert. Dazu sei eine europäische Einwanderungsbehörde notwendig. Gamon stellt sich eine Plattform vor, die Unternehmen und Fachkräfte aus Drittstaaten verbindet. Ähnlich wie in Kanada soll das System auf einer Punktelogik aufbauen. "Denn derzeit macht man es diesen hochqualifizierten Menschen wahnsinnig schwer." (Marie-Theres Egyed, 25.3.2019)