Wenn man dieser Tage in Budapest weilt, erinnert man sich an die Feststellung des polnischen Satirikers Stanisław Jerzy Lec (1909–1966): "Es gibt eine ideale Welt der Lüge, wo alles wahr ist." Der Beschluss der Christdemokraten der Europäischen Volkspartei (EVP) über die Suspendierung der Mitgliedschaft der Fidesz von Viktor Orbán wird hier seit Tagen von seinem Medienreich nicht bloß als taktischer Erfolg des Partei- und Regierungschefs, sondern sogar als die Rettung des konservativen christlich-demokratischen Charakters der EVP am Vorabend der entscheidenden Europawahlen gefeiert. Orbán selber gab den Ton in seiner Pressekonferenz am Mittwochabend und durch eine von Tag zu Tag schärfer gewordene Serie von Reden und Interviews an.

Laut ihrer Lesart sollte sich die EVP im Sinne Orbáns wandeln, und nicht seine Fidesz müsste sich den europäischen Werten der Familie anpassen. Dabei wird von Orbán selbst und seinen Leuten ein mutwilliger Vergleich mit Österreich und dem damaligen Bundeskanzler Wolfgang Schüssel gezogen. Wegen der Bildung der schwarz-blauen Regierung hatten damals 14 EU-Staaten eher symbolträchtige, aber politisch kontraproduktive und ungerechtfertigte Maßnahmen als Mahnung angedroht. Nach einem vom Präsidenten des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte bestellten Bericht eines vom früheren finnischen Staatspräsidenten Martti Ahtisaari geleiteten dreiköpfigen "Weisenrates" wurden die damals auch von mir scharf kritisierten überzogenen "Sanktionen" aufgehoben.

Weisenbericht

Nun erfand Orbán das österreichische "Drehbuch", sagte er bei seiner Pressekonferenz, für die Schlichtung des Konflikts mit der EVP. Ein Dreiergremium, geführt vom früheren belgischen EU-Ratspräsidenten Herman Van Rompuy, dem auch Schüssel angehört, soll über die Fidesz berichten. Im Jahr 2000 war der Streit nicht zwischen EVP-Mitgliedsparteien, sondern zwischen Regierungen, und einer der unbeugsamsten Österreich-Kritiker war der konservative französische Staatspräsident Jacques Chirac. Es ging nicht um die Zukunft der ÖVP und auch nicht um die EVP, sondern der Gerichtshof hatte den "Weisenbericht" in Auftrag gegeben. Der gravierendste Unterschied ist aber, dass es sich damals um eine Mahnung an eine künftige Regierung Österreichs handelte und nicht wie in Ungarn um ein Regime, das in den letzten acht Jahren die verfassungsmäßigen Grundlagen der liberalen Demokratie, den Rechtsstaat und den Pluralismus aus den Angeln gehoben und eine konsolidierte Kleptokratie errichtet hat.

Was immer man heute von den Schüssel-Regierungen halten mag, nicht einmal die schärfsten Kritiker können behaupten, dass zwischen 2000 und 2008 die demokratischen Grundrechte in unserem Land untergraben wurden. Der von Orbán und seinem Apparat an den Haaren herbeigezogene Vergleich zwischen Österreich anno 2000 und Ungarn 2019 ist mehr als eine zynische und moralisch unzulässige Manipulation. Er ist auch ein empörender und schändlicher Missbrauch der Lebensbilanz jenes Wolfgang Schüssel (samt seiner Regierung), der nun dem EVP-"Weisenrat" angehören soll. (Paul Lendvai, 25.3.2019)