Die Weißkittel tätschelten ihm bei jeder Gelegenheit die Wange, erinnert sich der Kolumnist. Sein Hausarzt aber, war ein begeisterter Kettenraucher.

Foto: Imago

Heutigentags steht jeder angehende Patient vor der Qual der Wahl: Er kann unter ungezählten Medizinerinnen und Medizinern wählen, er kann die Dienste von Kliniken und Ambulanzen beanspruchen, sich für Wahl- oder Fachärzte entscheiden et cetera. In den Kreisky-Jahren herrschten auf medizinischem Gebiet gelegentlich noch Engpässe. Aber es steckten ja auch noch Gewehrkugeln in vereinzelten Hausfassaden.

Die Erben des Hippokrates waren damals fast immer männlich. Ihre Erscheinung war umso imposanter, als sie beinahe bodenlange weiße Mäntel trugen. Ihr Würdeputz, ergänzt durch eine schüttere Haarpracht, verlieh ihnen das Aussehen von Wissenschaftern, die sich um die Erfindung von leistungsstarken Trockenhauben verdient machten.

Kindern wie mir, einem schüchternen Babyboomer, tätschelten sie bei jeder unpassenden Gelegenheit die Wange. In ihren Ordinationen roch es brechreizerregend nach chemischen Ausschweifungen. Mein Hausarzt aber – physiognomisch ein Ebenbild des späten Thomas Bernhard – war begeisterter Kettenraucher.

Abhorchen mit Marlboro

Um seiner Leidenschaft möglichst ohne lästige Unterbrechungen frönen zu können, hielt dieser honorige Mann ein winziges Fenstersegment zur Gasse hin ganzjährig geöffnet. Beim Abhorchen meiner Brust begnügte sich Dr. Schlee mit der geräuschvollen Inhalation einer Marlboro. War von ihm ein Rezept auszustellen, stieg mein geliebter Arzt rechtzeitig auf eine "Johnny ohne" um – die blutrote Farbe der Packung verdeutlichte den Grad der Gefährdung.

Als Mediziner muss Dr. Schlee eine Koryphäe gewesen sein, denn im Wartezimmer seiner Ordination drängten sich unzählige Menschen. Der Kampf um einen der begehrten, uralten Polstersessel schien aussichtslos. Nur einmal blendete mich die unverhoffte Vakanz einer solchen Sitzgelegenheit. Mein Gesäß hatte fast schon den Überzug berührt, als mir die danebensitzende Dame im Tone der Besorgnis zuflüsterte: "Ned hi'setz'n! Do haod a Frau hi'g'mocht!" Augenblicklich schnellte ich hoch.

Von nun an – und noch lange nach Ende der Ära Kreisky – pflegte ich meine Arztvisiten ausschließlich stehend zuzubringen. (Ronald Pohl, 27.3.2019)