In der Swatch Flymagic verbirgt sich eine Spiralfeder aus dem neuen Werkstoff Nivachron.

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Die Nivachron-Spiralfeder wie sie in der Flymagic verbaut ist.

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Kleine Teile, ganz groß: eine Siliziumspirale mit Unruhreifen, wie sie Omega in Co-Axial- Kalibern verwendet. Zum Beispiel in der Seamaster Diver 300M ...

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... die hier zu sehen ist.

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Patek Philippe setzt auf Siliziumspiralen – zu erkennen bei der Calatrava "Squelette" (Ref. 5180/1R-001).

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TAG Heuer beschreitet mit einer Karbonspiralfeder, die in der Carrera Calibre Heuer 02T Tourbillon Nanograph werkt, ganz neue Wege.

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Hier ist die Spirale aus Karbon-Verbundwerkstoff zu sehen, wie sie in der Autavia-Kollektion von TAG Heuer zu finden ist.

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Das erste Modell mit der neuen Spirale ist die Autavia-Kollektion, die den Zusatz "Isograph" erhält.

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Die doppelte Spiralfeder aus Silizium von Breguet.

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Die Classique 5177 "Blaues Grand-Feu-Email" von Breguet, angetrieben vom mechanischen Uhrwerk 777Q mit Automatikaufzug: Hier kommt Silizium bei Spiralfeder, Anker und Hemmungsrad zum Einsatz.

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Dieses Mal blieb der große silberne Aschenbecher unberührt. Eifrige Mitarbeiter hatten ihn für den Boss bereitgestellt. Denn Nick Hayek ist dafür bekannt, gerne die eine oder andere Zigarre zu schmauchen. Möglicherweise wollte er sich diese eine Zigarre aber auch für einen speziellen Anlass aufheben – nämlich für die offizielle Eröffnung des neuen Hauptquartiers von Swatch in der Schweizer Uhrenstadt Biel, wo unter anderem auch Omega produziert und Rolex zu Hause ist.

Noch wirkt alles ein bisschen provisorisch im Inneren des vom japanischen Star-Architekten Shigeru Ban entworfenen Holzbaus, der einer Riesenschlange ähnelt. Dennoch ist dies der richtige Ort, um etwas (Uhren-)Weltbewegendes zu verkünden, dachte man wohl. Also fand sich quasi die halbe Fachwelt in dem modernen Bürogebäude ein – und staunte ob der tollen Architektur und der als Revolution angekündigten Neuerung.

Ins Herz schauen

Letztere trat in Gestalt der Swatch Flymagic vor das Publikum. Als Basis diente ihr die Automatikuhr Sistem 51. Jene Uhr, die vor einigen Jahren für Furore sorgte – kommt deren Werk doch mit insgesamt nur 51 Teilen aus. Bei der Flymagic sind es allerdings um 15 mehr, darunter eine kleine Sekunde bei zwölf Uhr, die sich gegen den Uhrzeigersinn dreht.

Um die eigentliche Innovation zu finden, muss man etwas tiefer ins Werk eintauchen und dessen "Herz" genauer betrachten: die Unruhspirale. Die besteht aus einem bis dahin in der Branche unbekannten Material namens Nivachron – einer gemeinsam mit Audemars Piguet entwickelten Titanlegierung, die alle Kriterien erfüllt, die eine Unruhspirale im modernen Uhrenbau haben muss. Allen voran paramagnetische Eigenschaften, wie Hayek betont: "30 Prozent aller Reparaturanfragen bei mechanischen Uhren in der Schweiz", rechnet er vor, "gehen auf magnetisierte Uhren zurück."

Zusammenziehen, ausdehnen

Die Gefahr lauere überall: Den Zeitmesser einmal auf die iPad-Hülle gelegt, schon tickt er nicht mehr richtig. Sie geht dann bis zu zehn Minuten pro Tag vor. Wenn man also dieses Problem in den Griff bekäme, hat man zufriedene Kunden und noch dazu weitaus geringere Kosten. "Mit dieser Neuerung verbessern wir die Ganggenauigkeit, verlängern die Gangreserve und die Serviceintervalle." Die Spirale sei zudem temperaturbeständig und stoßfest – und, nicht ganz unwesentlich, günstiger herzustellen als etwa Spiralen aus Silizium, die in den letzten Jahren ihren Siegeszug angetreten haben. Aber der Reihe nach.

Zunächst ist die Frage zu klären: Warum überhaupt so viel Aufregung um dieses winzige, nur wenige Gramm schwere Bauteil? Nun, die Spiralfeder gilt zusammen mit der Unruh gemeinhin als das "Herz des Uhrwerks". Es ist wohl kein Zufall, dass eine stilisierte riesige Unruhspirale den Eingang der Patek-Philippe-Zentrale in Genf überragt. Sie ist der wichtigste Part, wenn man die Präzision der mechanischen Zeitmessung verbessern will. Spiralig aufgerollt und deutlich dünner als ein menschliches Haar, ist sie mit dem Unruhreifen verbunden, zieht sich zusammen und dehnt sich wieder aus. Die Gleichmäßigkeit dieser Schwingung, auch Frequenz genannt, gewährleistet schließlich die Ganggenauigkeit der Uhr.

Schwerarbeiter

Die Spirale ist ein Schwerarbeiter. Sie führt jährlich mehrere hundert Millionen Schwingungen aus, ist daher verschleißanfällig und empfindlich gegenüber Temperatur und Magnetismus. Trotz dieser verschiedenen äußeren Einwirkungen wie Erschütterungen, Magnetfelder, Luftdruck- und Temperaturschwankungen sollen die Schwingungen von Unruh und Unruhspirale aber möglichst gleich, man sagt "isochron", ablaufen.

Üblicherweise aus einer Metalllegierung hergestellt – vor allem das marktbeherrschende "Nivarox" der zur Swatch Group gehörenden Nivarox-FAR sei hier zu erwähnen – kann die Spiralfeder in ihrer Funktion durch die genannten Faktoren beeinträchtigt werden. So haben sich vor allem die Branchengrößen auf die Suche nach Alternativen gemacht und eine solche in dem aus der Computerchip-Herstellung bekannten Material Silizium gefunden. Das Element ist fest und dennoch biegsam, leicht, rostfrei, langlebig, nicht magnetisch und beständig gegenüber Temperaturschwankungen. Somit bringt es die idealen Voraussetzungen mit, um es für die Herstellung von Unruhspiralen zu verwenden.

Niederschwellig

Um das Jahr 2004 schlossen sich Rolex, Patek Philippe und die Swatch Group in seltener Eintracht zu einem Konsortium zusammen, um mit dem Forschungsinstitut Centre Suisse d'Électronique et de Microtechnique (CSEM) in Neuenburg eine Siliziumspirale zu entwickeln.

Herauskamen Spiralen, die auf den Namen Spiromax (Patek) oder Syloxi (Rolex) hören, mittels Oxidschichten stabilisiert wurden und mittlerweile bei den (hochpreisigen) Produkten dieser Marken ihre Verwendung finden. Auch bei der Swatch Group waren Siliziumbauteile zunächst den Highend- und Prestige-Marken vorbehalten: Breguet – historisch eng verknüpft mit bahnbrechenden Erfindungen rund um dieses Bauteil – hat sogar eine doppelte Spiralfeder entwickelt, während bei Omega die Co-Axial-Kaliber mit Siliziumspiralfedern ausgestattet sind. Tatsächlich ist die Technologie mittlerweile so ausgereift, dass Omega die Garantie auf seine "Siliziumuhren" von zwei auf fünf Jahre verlängerte.

Wettbewerb

Mittlerweile profitieren auch Marken im Einstiegssegment von der Technologie, allen voran Tissot und Mido. Das scheint Nick Hayek ein Anliegen zu sein: "Wir müssen auch in diesem Bereich präsent sein und zeigen, dass sich Innovationen nicht nur auf die höherpreisigen Marken beschränken." Damit begründet er auch die Entscheidung, Nivachron niederschwellig zunächst bei Swatch-Uhren einzuführen. Ab September 2019 soll es in allen Sistem-51-Modellen (Kostenpunkt um die 150 Euro) zu finden sein, verspricht Hayek. "Des Weiteren werden mittelfristig alle Marken der Swatch Group entweder eine Silizium- oder eine Nivachron-Spirale in ihren Werken verbauen."

Dass die Swatch Group mit Nivachron nun also ein Material bei der Hand hat, das nahezu die selben Eigenschaften wie Silizium aufweist, gleichzeitig billiger und einfacher zu produzieren und zu verarbeiten sein soll, setzt die Konkurrenz zunehmend unter Druck. Allen voran die Uhrenmarken von Richemont und LVMH. Schon gibt es erste Streitigkeiten mit Baume & Mercier, einer Richemont-Marke, die im Uhrwerk der Baumatic auch Siliziumspiralen nutzt. Das Konsortium sieht dadurch sein Patent verletzt. Dieses läuft, so schreibt die NZZ, je nach Land zu einem unterschiedlichen Zeitpunkt aus: In der Schweiz 2022, in Japan 2023. Die Anwälte werden damit wohl noch länger zu tun haben.

Größerer Zusammenhang

TAG Heuer (zu LVMH gehörig) wiederum ließ Anfang des Jahres mit einer Erfindung aufhorchen: einer Unruhspirale aus einem Karbon-Verbundwerkstoff. Spiralen aus diesem Material sind laut Hersteller deutlich leichter als ihre Pendants aus Metall und Silizium, sollen Stöße wie nichts wegstecken, Chronometer-tauglich sein, unzerbrechlich, amagnetisch ... Kurz: Sie sollen eine echte Konkurrenz für das Bisherige darstellen.

Nick Hayek gibt sich, darauf angesprochen, diplomatisch: "Wir wären froh darüber, wenn sich etwas tut", sagt er und sieht das Ganze in einem größeren Zusammenhang: "Jeder Technologievorsprung ist ein Vorteil für den Standort Schweiz." (Markus Böhm, RONDO Exklusiv, 24.6.2019)

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