Johanna Mahaffy als die 27-jährige Mary Page Marlowe und Roman Schmelzer als ihr Arbeitskollege und Gespiele Dan. Daheim warten auf Mary Page Mann und Tochter.

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Wir lernen die Hauptfigur Mary Page als Mutter kennen. Ihre Ehe ist am Ende, der kleine Sohn und die Teenagertochter müssen mit ihr wegziehen. Sie wollen nicht, in der Debatte darüber gerät Mary Page in die Defensive. Hat sie das selbst entschieden, wirft ihr die Tochter an den Kopf. Oder hat es der Vater bestimmt? Offenbar mangelt es der 40-Jährigen an lebensformender Takraft. Ein Bildschirm über der Bühne schreibt das Jahr 1986. Eine dankenswerte Orientierungshilfe in den kommenden eindreiviertel Stunden.

Wie ist sie die geworden, die sie ist? Mit einer üppigen Besetzungsliste von 16 Darstellern erzählen die Wiener Kammerspiele seit Donnerstag das (fiktive) Leben der Mary Page Marlowe. In elf Stationen vom Kinderwagen bis fast an die Bahre zeichnet der amerikanische Erfolgsdramatiker Tracy Letts darin die turbulenten Lebensstationen einer Frau nach.

Kurze Szenen zeigen vor- und zurückspringende Momentaufnahmen. Vier Darstellerinnen teilen sich die Rolle auf. Sandra Cervik deckt die dramatischsten Jahre als Erwachsene ab. Ihre dunkle Stimme ist wie gemacht für die Figur am Tiefpunkt der Fahrt auf der Gefühlsachterbahn.

Anfangs hat sie noch Träume

Der Abend ist dem Stoff nach ganz Kammerspiele, und zugleich gerät er erfreulich anders. Die Bühne von Volker Hintermeier mag auf ein paar Lampen und Stellwände reduziert visuell kein Spektakel bieten, doch sie vermeidet den erdrückenden Realismus bieder nachgebauter Kulissen. Dafür sind die Figuren so lebendig und fern von Klischees, wie man es auf dieser Bühne lange nicht mehr gesehen hat. Regisseurin Alexandra Liedtke formt eine jede ganz anders – und eine jede sitzt.

Swintha Gersthofer und Gioia Osthoff sind als Studentenfreundinnen kesse American Girls von nebenan. Die eine ein Frechdachs, die andere glaubt mit Überzeugung an die Karten, die sie Mary Page legt. Johanna Mahaffy als herrlich frische, junge Mary Page will nicht heiraten, hat den Kopf noch voller Träume von der weiten Welt und Selbstbestimmung. Lisa-Carolin Nemec erlebt als Mary Pages Tochter demonstrativ kaugummikauend den Trotz und später auch das Einvertändnis mit der Mutter. Marcus Bluhm ist ein herzenswarmer dritter Ehemann und Babett Arens seine bei sich angekommene Mary Page.

Der Personalaufwand lohnt sich

Silvia Meisterle gibt die selbstbezogene, kühle Mutter. Mit dem Drink in der Hand macht sie die Sangeskünste und das Selbstbewusstsein der 12-jährigen Mary Page nieder, während sie sie schwuppdiwupp in die hochhackigen Schuhe stellt und ihr erklärt, dass die Optik im Leben alles ist. Eine Schlüsselszene der Selbsterkenntnis spielt Cervik mit Raphael van Bargen als Therapeut. Kostümbildnerin Su Bühler hüllt ihn ganz in beige Langeweile, Roman Schmelzer staubt dafür strippend und in knackig gelber Unterhose einige Lacher ab.

Es gibt derer noch ein paar, aber keine der Pointen kommt plump. Das Stück ist hoch sensibel gemacht, allmählich rundet sich das Bild. Der Personalaufwand lohnt sich, verdient großer Applaus. (Michael Wurmitzer, 29.3.2019)