"Sie hat die Kraft eines T34 und die Disziplin einer Bolschoitänzerin": So charakterisierte Regisseur Frank Castorf die Schauspielerin Valery Tscheplanowa. Zuletzt war sie am Münchner Residenztheater engagiert.

Foto: Joerg Reichardt

Antworten kommen ihr nur langsam von den Lippen. Valery Tscheplanowa denkt nach, bevor sie formuliert. Die 39-jährige Schauspielerin gilt als unermüdliche Spracharbeiterin. Sie arbeitete mit den spannendsten Regisseuren des deutschsprachigen Raums. Im Sommer gibt sie erstmals die Buhlschaft.

STANDARD: Vergangenes Jahr spielten Sie in Salzburg eine der Hauptrollen in Ulrich Rasches radikaler Inszenierung der "Perser", heuer geben Sie die Buhlschaft. Größer könnten die Gegensätze nicht sein, oder?

Tscheplanowa: Ich sehe es genauso. Mich fasziniert die Tradition des Jedermann. Ich sehe mir gerade alle verfügbaren Aufnahmen des Stücks auf dem Domplatz an.

STANDARD: Die Tradition könnte einen auch abschrecken.

Tscheplanowa: Mir ist kein anderes Stück bekannt, das seit 100 Jahren auf einem Domplatz gespielt wird. Die Möglichkeit, Stücke zu spielen, die nicht mit Geschichten und Traditionen überfrachtet sind, hatte ich zur Genüge.

STANDARD: Sie haben mit den interessantesten und radikalsten Regisseuren gearbeitet. Da kann der Salzburger "Jedermann" keine große Herausforderung sein.

Tscheplanowa: Ich habe erst sieben Jahre mit Dimiter Gotscheff bis zu dessen Tod und in den vergangenen Jahren mit Frank Castorf gearbeitet. Bei der letzten Faust-Aufführung gab es 45-minütigen Applaus. So etwas kommt nicht wieder. Ich will mich daher in Zukunft mit Film beschäftigen. Die Buhlschaft kam dazwischen, und das passt sehr gut. Der Jedermann ist für mich nicht wirklich Teil der Theaterwelt. Er ist mehr Zeremonie als Stück.

STANDARD: Ist die Buhlschaft auch nicht Teil der Theaterwelt?

Tscheplanowa: Auf gewisse Art nein. Im Jedermann denkt ein Mann über sein Leben nach, die Buhlschaft, der Glaube, der Tod, die Guten Werke stehen relativ gleichbedeutend nebeneinander. Die Buhlschaft ist für mich mehr Aspekt als Rolle. Mich interessiert, wie das Ganze gestaltet ist.

STANDARD: Die Buhlschaft symbolisiert das Weibliche. Sie dagegen spielen gerne Männerrollen.

Tscheplanowa: Ich hatte das Glück, auch Männerrollen verkörpern zu dürfen. Aber ich habe auch viele klassische Frauenrollen wie die Maria Stuart oder Stella gespielt. Tacheles gesprochen: Es gibt fleischlich sicher besser ausgestattete Frauen als mich, die den Domplatz zum Schmachten bringen. Ich weiß nicht, ob das mit mir auch funktionieren wird. Ich bin kein Anschmachtobjekt.

STANDARD: Wie gehen Sie mit all den Klischees um, mit denen die Buhlschaft überfrachtet ist?

Tscheplanowa: Ich will das Klischee nicht unbedingt angreifen. Ich positioniere mich aber dazu. Es ist ein bisschen so wie beim Gretchen: Da gibt es eine gewisse Bühnentradition, da gibt es den Stücktext, und da gibt es die Klischees. All das versuchte ich zu verkörpern. Dazu addiere ich das, was ich sagen möchte. Ich kann den Jedermann nicht mit Gewalt in das Jahr 2019 schleppen. Wenn ich etwas Aktuelles ausdrücken möchte, spiele ich einen neuen Autor.

STANDARD: Haben Sie nicht den Anspruch, eine emanzipierte Buhlschaft zu spielen?

Tscheplanowa: Der Jedermann wurde vor hundert Jahren geschrieben, und man könnte ihn natürlich auch als Frau besetzen. Könnte. Allerdings müsste man den Text dafür umschreiben. Das wäre dann wohl eine Überfrachtung mit zu viel Aktualität.

STANDARD: Es wird derzeit diskutiert, inwieweit Frauen am Theater adäquat repräsentiert sind.

Tscheplanowa: Mir wurden nie Steine in den Weg gelegt. Ich arbeite genauso gern mit Frauen wie mit Männern zusammen. Es gibt im Theater sehr viele begabte Frauen.

STANDARD: Die Statistiken sagen, dass Frauen am Theater unterrepräsentiert sind. Ärgert Sie das?

Tscheplanowa: Gegenfrage: Seit wann können Frauen wählen?

STANDARD: Seit 100 Jahren.

Tscheplanowa: Und was ist seitdem alles passiert? Ich würde sagen: Hut ab. Dass noch mehr geht: unbedingt! Aber ich sehe keinen Grund zu übertriebener Besorgnis. Wir brauchen neue Stoffe, neue Themen. Wenn wir immer wieder zu den alten Stoffen zurückkehren, dann ist klar, dass wir es dort mit patriarchalen Systemen und Strukturen zu tun haben.

STANDARD: Wo haben Sie im Theater Sexismus erlebt?

Tscheplanowa: Ich muss sagen, kaum. Ich war diesen Winter wieder einmal zu Hause in Russland. Im Sozialismus haben alle gleich wenig verdient, alle waren gleich. Emanzipation war keine Frage, schlicht aufgrund des Mangels an Kapital. An der Schauspielschule habe ich bereits eine Männerrolle vorgesprochen. Das war für mich ganz normal.

STANDARD: Castorfs Volksbühne war eine der emanzipiertesten, aber auch eine Macho-dominierte Bühne. Wie ist es Ihnen ergangen?

Tscheplanowa: Ich kann nur schwärmen vom Glück, das ich dort erfahren habe. Ich habe sehr emanzipierte Frauen erlebt. Die Regiehandschrift, die vorherrschte, warf keine Fragen auf. Entweder man ist ihr gefolgt oder nicht. Man konnte aber immer ablehnen. Wenn man sich aber gemeinsam auf den Weg machte, gab Frank die Richtung vor.

STANDARD: Von Castorf gibt es ein Zitat, das Sie wahrscheinlich lange begleiten wird. Er meinte, Sie hätten die Kraft eines T34 und die Disziplin einer Bolschoitänzerin. Und Sie hätten die typische Verlogenheit einer Russin. Hat er eine Watsche für diesen Sager kassiert?

Tscheplanowa: Nein, ich finde, das ist eine wunderbare Beschreibung, wobei ich nicht genau weiß, was er mit der Verlogenheit einer Russin meinte. Ich nehme an, eine Dostojewski-hafte Verschwiegenheit. Dass ich nicht alle Karten auf den Tisch lege. Das streite ich nicht ab.

STANDARD: Sie sind mit acht Jahren nach Deutschland gekommen, konnten kein Wort Deutsch. Wie haben Sie zur Sprache gefunden?

Tscheplanowa: Meine Mutter, eine Dolmetscherin, hat aufgehört, mit mir Russisch zu sprechen, als wir nach Deutschland kamen. Ich konnte die Sprache dadurch wie eine Muttersprache aufsaugen.

STANDARD: Wie blickt man auf eine Sprache, die man sich erst im Laufe seiner Kindheit aneignet?

Tscheplanowa: Wenn ich Russisch spreche, habe ich das Bewusstsein, das ich für die deutsche Sprache habe, nicht. Russisch blubbert einfach aus mir heraus. Bei der deutschen Sprache horche ich anders hin. Ich habe eine andere Liebe zu der Sprache, weil ich sie ständig neu erforsche.

STANDARD: Welchen Bezug haben Sie heute zu Russland?

Tscheplanowa: Ich habe bei Kasan eine Wohnung von meiner Großmutter geerbt. Ich war viele Jahre nicht in Russland, versuche jetzt zweimal im Jahr dort zu sein. Ich war überrascht, wie stark mich die Landschaft meiner Kindheit berührt. Ich bin größtenteils bei meiner Urgroßmutter aufgewachsen.

STANDARD: Und die politische Situation?

Tscheplanowa: Kasan ist eine tatarische Stadt. Es hat sich vieles zum Positiven geändert. Russland ist ein gewaltig großes Land. Die politische Situation ist sehr komplex. Ich bin auf keinen Fall auf der Seite von gewaltsamen Aneignungen. Aber ich kann dafür nicht die Menschen verantwortlich machen, die dort leben. Ich kann das Land nicht ablehnen, nur weil die Regierung übersteuert.

STANDARD: Fühlen Sie sich als Deutsche oder als Russin?

Tscheplanowa: Ich bin beides, denke ich.

(Stephan Hilpold, 30.3.2019)