Marie Antoinette, auf drei Tänzerinnen aufgeteilt: hier Andressa Miyazato (re.) mit Ludwig XVI., getanzt von Jonatan Salgado Romero.

Dieter Wuschanski

Beliebt war die extravagante Marie Antoinette in Frankreich nicht. Sie sammelte Beinamen wie "l'autre chienne" – die andere Hündin, von "l'Autrichienne", die Österreicherin – "Madame Veto" oder "Madame Déficit". 1755 hatte sie als vorletzter Spross von Kaiserin Maria Theresia das Licht der Welt erblickt – einen Tag nach dem verheerenden Erdbeben von Lissabon. Am unschönen Ende ihres Lebens stand bekanntlich ein politisches Erdbeben: die Französische Revolution.

Knapp vor ihrem 38. Geburtstag endete die Gemahlin von König Ludwig XVI. auf der Guillotine. Seither gilt Marie Antoinette als historischer Promi. Grund genug für Mei Hong Lin, die Chefin des Linzer Balletts, aus deren nicht gerade langweiliger Biografie ein Stück zu machen. Sie folgt damit mit einigem Respektabstand ihrem deutschen Kollegen Patrick de Bana, der seine Fantasien über Madame Déficit vor zehn Jahren in der Wiener Volksoper vorgestellt hat.

Für das Linzer Tanzstück hat Walter Haupt, Erfinder der "Klangwolke", die Musik komponiert. Er lässt die Französische Revolution auf einem Klangteppich mit Vorgeschichte schweben: Hat er doch bereits für den 200. Jahrestag der großen Umwälzung die Oper Marat geschaffen und vor immerhin 150.000 Zuschauern aufgeführt.

So viele werden es bei Mei Hong Lins Marie Antoinette-Ballett wohl nicht werden, obwohl auch diese Komposition beeindruckend geraten ist. Das Bruckner Orchester unter der Leitung von Marc Reibel setzt sie mit viel Liebe zur Klangkomplexität um.

Zuerst entstand die Musik

Die eigenwillige, raffinierte Musik entstand zuerst. Auf ihr muss die Choreografin ihren Tanz balancieren lassen. An sich nichts Ungewöhnliches, aber hier scheinen die beiden Strukturen nicht ganz leicht zueinandergefunden zu haben. Mei Hong Lin hatte sich vorgenommen, die Figur ihrer Marie Antoinette so zu entwickeln, dass sich dem Publikum erschließt, wie die Geschichte aus der Perspektive der Austrofranzösin verstanden werden kann.

Was fühlte das Mädchen, als es mit 14 Jahren an Frankreich "übergeben" wurde? Wie erlebte sie ihre Begegnung mit dem Dauphin, wie ihr Leben als Königin: die Intrigen, die Revolution und das Ende?

Das hat die Choreografin in manchen Passagen geradezu umwerfend dargestellt. Geschichten lassen sich mit Tanz ja nicht so einfach erzählen, aber die Antriebe, Gefühle und Widersprüchlichkeiten dahinter umso besser zeigen. Oft – und so auch hier – wird daher beim narrativen Ballett der "Plot" nur als Gerüst hingestellt. Darin spielen sich die wortlosen Dramen und Dynamiken der Emotionen ab. Um das plastisch präsentieren zu können, verteilt Mei Hong Lin ihre Marie Antoinette auf drei Tänzerinnen: Núria Giménez Villaroya, Kayla May Corbin und Andressa Miyazato.

Sie dringen mit viel Empathie in die Innenwelt eines Aliens vor, das von der irrsinnigen Welt des Hochadels herangezüchtet und unter permanenter Überwachung sozialisiert wurde. Etliches von dem Horror in der Psyche einer Frau, die zugleich Sklavin und Luxusgeschöpf war, kann die Choreografin herausarbeiten. Leider aber nicht alles: Sobald es nämlich zum Showdown kommt, hat Mei Hong Lin ihre Möglichkeiten schon zu sehr ausgeschöpft. Sie muss zu einer Expressivität greifen, die das Finale beinahe enthauptet.

Tänzer machen ihre Sache gut

In manchen Passagen hängt der Tanz in den Netzen der Musik fest, aber zuweilen führt Haupts Klanglandschaft Mei Hong Lins sehr feine Tänzerinnen und Tänzer auch in richtig wilde Gegenden. Und Dirk Hofackers überdeutliche Bühne und Kostüme unterstreichen eine kindliche Note, die in der gesamten Inszenierung mitschwingt und sie ab und zu treffend ironisiert.

Das Linzer Uraufführungspublikum zollte dem Tanz und der Musik respektvollen Applaus, fast bis an den Rand der Begeisterung. (Helmut Ploebst, 1.4.2019)