Wer Jugendliche gegen Fake-News immunisieren möchte, muss ihnen beibringen, wie sie zu einer kritisch begründeten Urteilsbildung kommen – etwa im Philosophieunterricht.

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Christian Thein: "Ich sehe die Gefahr, dass Bildung vor allem als Erlebnis wahrgenommen wird, weniger als Bildungserfahrung."

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Digitalisierung durchdringt langsam, aber sicher alle Lebensbereiche. Im Bildungsbereich stellen sich Fragen der digitalen Mediengesellschaft und der Umgang mit Fake-News als besondere Herausforderung. Der Philosoph Christian Thein benennt sinnvolle Einsatzbereiche für Digitaltechnologie, betont aber auch die Notwendigkeit analoger Lernerfahrungen. Er referiert am 3. April (17 Uhr, NIG, Hörsaal 3D) im Rahmen der Vortragsreihe "Fachdidaktik kontrovers" – organisiert von Philosoph Konrad Paul Liessmann, Niklas Gyalpo, Bernadette Reisinger und Elisabeth Widmer in Kooperation mit dem STANDARD – zum Thema "Kritische Philosophie der Didaktik in der digitalen Moderne".

STANDARD: Im Unterricht spielen digitale Medien eine immer größere Rolle. Wie verändern sie das Lernen?

Thein: Wir haben durch die Digitalisierung beschleunigte Bildungs- und entfremdete Zeiterfahrungen. Umgelegt auf Lehr-Lern-Settings bedeutet das etwa: Wenn wir im Geschichtsunterricht eine Rede beispielsweise von Goebbels nur mit digitalen Medien oder visualisiert vermitteln und nicht selbst lesen, dann bekommt man zwar einen kurzfristigen Erlebniseindruck, aber als Bildungserfahrung muss so eine Rede auch historisch kritisch und distanziert aufgearbeitet werden – mit der Originalquelle. Ich sehe die Gefahr, dass die Digitalisierung von Unterrichtsmaterialien dazu führt, dass Bildung vor allem als Erlebnis wahrgenommen wird und weniger als mittel- und langfristig wirkende Bildungserfahrung. Die aber ist entscheidend, um ein Thema auch längerfristig zu reflektieren. Ein weiteres Problem sehe ich darin, dass sich der Bildschirm zwischen Bildungssubjekt und Bildungsobjekt schiebt.

STANDARD: Mit welchen Folgen?

Thein: Das führt zu Entfremdungserfahrungen mit Blick auf den Gegenstand, wenn grundsätzlich ein Bildschirm dazwischengeschaltet ist. Das Ablenkungspotenzial ist da sehr groß. Denken wir nur an eine sehr volle Internetseite mit vielen Links.

STANDARD: Wo halten Sie den Einsatz von digitalen Unterrichtsmedien für sinnvoll und wo nicht?

Thein: Das hängt sehr vom Fach, aber auch von den Zielsetzungen für den Unterricht ab. Wenn man im Elementarbereich sehr diverse Lerngruppen hat, auch Schülerinnen und Schüler mit Lernbeeinträchtigungen oder Behinderungen, dann funktioniert binnendifferenzierter Unterricht beim Erwerb von Elementartechniken wie Lesen oder Schreiben oder auch von Sachkenntnissen mit digitalen Schulbüchern besser als mit klassischen Lehrbüchern, die diese unterschiedlichen Arbeitsmöglichkeiten nicht bieten. Andererseits ist es sicher ideal, wenn man zum Beispiel über das Ökosystem spricht, dass man im Biologieunterricht auch einmal in den Wald geht, statt lediglich mit Videoanimation zu arbeiten.

STANDARD: Wie verändert der Einsatz von digitalen Medien die Rolle der Lehrerinnen und Lehrer?

Thein: Für viele ist es sehr anspruchsvoll, digitale Medien zu integrieren. Bei der älteren Generation spürt man ein starkes Sträuben dagegen, manchmal aufgrund der Unkenntnis der neuen Medien. Bei der jüngeren Lehrergeneration wiederum gerät der fachliche Fokus des Unterrichts ein bisschen aus dem Blick. Ich halte nichts davon, das Medium in den Vordergrund zu schieben und zu sagen, der Unterricht muss jetzt digital ablaufen. Der Unterricht muss zuerst und vor allem fachlich gut sein, und wenn digitale Medien einen guten Beitrag dazu leisten können, kann man das ja machen. Ich habe nur Sorge, dass gegenwärtig im politischen Diskurs angenommen wird, der Unterricht wird grundsätzlich besser, wenn wir ihn digital gestalten. Das glaube ich nicht. Digitaler Unterricht ist nicht grundsätzlich besser. Man muss genau hinsehen, wo wir ihn dadurch besser machen können. Dazu fehlen noch empirische Studien. Es ist mehr oder weniger ein Diktum. Der politische Wille zielt primär auf Umsetzung. Man muss Schülerinnen und Schülern, Studierenden und Lehrenden den nötigen Freiraum zugestehen, darüber zu reflektieren.

STANDARD: Sie betonen besonders die Notwendigkeit der analogen Förderung von elementaren Kulturtechniken, sie seien das Hauptproblem an den Unis. Warum?

Thein: Wir machen an den Unis die Erfahrung, dass ein Drittel der eingereichten Haus- und Bachelorarbeiten auf eklatante Probleme im Bereich Syntax, Interpunktion und Orthografie verweisen. Es ist klar, dass die kulturelle Entwicklung, auch durch die Digitalisierung, darauf hinausläuft, dass Jugendliche weniger lesen und sehr viel Zeit mit Smartphone und Computer verbringen, auch die Kommunikation mit Freunden läuft sehr stark darüber. Das verändert die ganze Sprach-, Schreib- und Lesepraxis. Darum plädiere ich dafür, weiterhin das analoge Lernen in den Vordergrund zu schieben. Meine Befürchtung ist, dass die Jugendlichen wichtige Erfahrungsräume des nichtdigitalen Umgangs mit der Welt verlieren. Die Schule sollte ein Raum sein, wo man ihnen diese Art von Welterfahrung zumindest offeriert.

STANDARD: In die Digitalisierungsdebatte schleicht sich oft ein kulturpessimistischer Ton ein, meist angestimmt von Digital Immigrants, jenen, die nicht mit digitalen Technologien aufgewachsen sind. In Österreich geht in den nächsten zehn Jahren die Hälfte aller Lehrer in Pension. In vielen Klassen steht also eine überalterte Lehrerschaft Kindern gegenüber, für die das Smartphone alltäglich ist und deren zukünftiges Leben von Digitalisierung geprägt sein wird. Welche Verantwortung haben die Digital Immigrants gegenüber Digital Natives?

Thein: Die Generationen können voneinander lernen. So ist es interessant, dass gerade die Digital Natives den beruflich erforderlichen Umgang mit E-Mails oder Dokumententausch nicht immer beherrschen, und dies muss natürlich erlernt werden. Das Smartphone ist das bevorzugte digitale Medium von jungen Menschen, und dann auch eher zu Unterhaltungszwecken und für Kommunikation. Die Verantwortung der Digital Immigrants sehe ich darin, dass sie eine größere Distanz haben zu den digitalen Medien. Daraus ergeben sich verschiedene Möglichkeiten der kritischen Reflexion. Das muss nicht gleich Kulturpessimismus sein. Es geht um eine gehaltvolle Gestaltung des Digitalisierungsprozesses, damit er nicht wie ein Naturgesetz hinter unserem Rücken abrollt.

STANDARD: In dem Zusammenhang heißt es immer, Kinder müssen einen reflektierten Umgang mit Medien lernen. Was muss "kritische Medienbildung" heute leisten, damit Kinder im Social-Media-Dschungel zwischen Fake-News, Filter-Bubbles und alternativen Fakten nicht verlorengehen?

Thein: Da kann der Philosophieunterricht eine Schlüsselrolle übernehmen. Man muss das Thema Fake-News gar nicht direkt ansprechen. Das ist ja ein schillernder und unbestimmter Begriff. Es geht um Fragen wie: Was ist eigentlich Wahrheit, was ist Rechtfertigung, welche Bedingungen müssen erfüllt sein, dass wir Sätze als wahr beurteilen können? Diese Fragen kann man im Unterricht mit Blick auf Meinungen, Informationen oder Medien schön thematisieren. Philosophieunterricht soll zur Urteilsbildung befähigen. Kinder und Jugendliche müssen schrittweise lernen, dass sie zu verschiedenen philosophischen, politischen und lebensweltlichen Fragestellungen viele Vormeinungen oder Vorstellungen haben, die man im Unterricht irritieren und infrage stellen kann und soll. Fundierte Urteile basieren darauf, dass man Abwägungsprozesse vollzieht, Argumente austauscht und lernt, sich zu rechtfertigen, aber auch Positionen zu ändern. Wer das gelernt hat, kann es auch auf andere Felder, auch auf das, was man Fake-News nennt, übertragen. (Lisa Nimmervoll, 2.4.2019)