Gleich zweifach muss man dem türkischen Präsidenten Tayyip Erdoğan beziehungsweise seinen diversen Sprachrohren nach den geschlagenen Lokalwahlen recht geben: Es ist erstens wohl tatsächlich die wirtschaftliche Lage in der Türkei, deretwegen sich manche Wähler und Wählerinnen von der AKP abgewandt haben. Seine Partei der kleinen Leute funktioniert nur, wenn es für sie aufwärts geht, was lange der Fall war. Und, Achtung, Ironie, er wird zweitens auch richtig liegen mit der Voraussage, dass die Anfechtung der Wahlergebnisse dort, wo die AKP verloren hat – etwa in Ankara -, Verschiebungen zu deren Gunsten bringen wird.

Denn dass Erdoğan diese Niederlagen einfach zur Kenntnis nehmen wird, hat niemand erwartet. Die Sache ist noch lange nicht erledigt.

Dabei ist ihm auf nationaler Ebene ja eigentlich nicht viel passiert: Die AKP ist keineswegs völlig eingebrochen. Die Zuwächse der Oppositionskoalition sind nicht so riesig und zumindest teilweise der Tatsache zuzuschreiben, dass die kurdische HDP im Westen der Türkei nicht antrat. Und selbst wenn Ankaras oder Istanbuls Bürgermeister tatsächlich von der Opposition gestellt werden sollte, so bleiben wichtige Befugnisse in den Städten dennoch bei den Provinzgouverneuren angesiedelt – und damit beim Präsidenten, der sie ernennt. Das gilt vor allem für die Sicherheit, aber auch Budgetentscheidungen liegen oft bei der Zentralregierung.

Vor allem kommt jedoch jetzt für Erdoğan und seine AKP die große Atempause: Die aktuellen, mit einem blauen Auge überstandenen Wahlen waren die letzten in einem großen Zyklus. Verfassungsreferendum 2017, vorgezogene Parlaments- und Präsidentschaftswahlen 2018, Gemeinde- und Provinzwahlen 2019 – und jetzt ist Schluss bis 2023. Zeit für die Machtkonsolidierung.

Politische Paranoia

Dass der türkische Präsident sich damit nicht zufriedengeben wird, liegt nicht zuletzt in seiner charakterlichen Ausstattung begründet: Seine politische Paranoia vergrößert sich durch jeden Rückschlag, seine autoritären Tendenzen bekommen durch jeden Widerstand Auftrieb. So hat ja auch sein Streben nach einer immer größeren Machtfülle mit dem Verlust der AKP-Parlamentsmehrheit im Juni 2015 begonnen.

Die wirtschaftliche Misere, in die er selbst die Türkei manövriert hat, lastet er ausländischen Machenschaften an. Selten haben lokale Wahlen, in der Türkei oder anderswo, stattgefunden, bei denen Innen-, Außen- und damit Sicherheitspolitik so verquickt waren. Der Slogan der AKP-Wahlallianz mit der nationalistischen MHP lautete typischerweise "Überleben" (beka). Das heißt, zugespitzt, im Umkehrschluss: Wenn die AKP einen Stadtrat verliert, gefährdet das die Existenz der Türkei.

Die Bedrohung hat für Erdoğan einen Namen, den der kurdischen PKK: Er wollte sich über den Umweg dieser Wahlen die Bestätigung seines Mandats für die türkische Interventionspolitik gegen die mit der PKK verbündeten Kurden in Syrien holen.

Man muss ihm konzedieren, dass er damit über AKP-Grenzen hinaus und sogar bei konservativen Kurden Verständnis findet – aber eben nicht so einhellig, wie es für sein Freund-Feind-Denken akzeptabel wäre. Und diese Niederlage wird Erdoğan nicht versöhnlicher machen. Das ist keine gute Nachricht für die Opposition und die wenigen verbliebenen kritischen Stimmen von Journalisten, Künstlern, Intellektuellen und anderen. (Gudrun Harrer, 1.4.2019)