Paul Just vom Ludwig Boltzmann Institute for Rare and Undiagnosed Diseases mit einer Zeichnung des Magen-Darm-Trakts.

Foto: Katsey

Bauchspeicheldrüse: in der Krebsmedizin schwer behandelbar.

Foto: Katsey

Als das menschliche Erbgut 2003 vollständig entschlüsselt wurde, dachte man viele (wenn nicht sogar alle) Krankheiten besiegen zu können. Doch schon bald machte sich Ernüchterung breit: Der DNA-Text las sich nicht wie ein offenes Buch und hielt einige Überraschungen bereit.

Heute sind Mediziner ein Stück weiter gekommen und können aus der Buchstabenfolge unseres Erbguts einige Information herauslesen. Zwar lässt sich das Erkrankungsrisiko für Volkskrankheiten wie Herzinfarkt oder Diabetes bislang nur sehr grob einschätzen. In anderen Bereichen der Medizin erweist sich der Blick ins Erbgut aber als zunehmend hilfreich: etwa bei Krebs.

Bestmögliche Therapieoption

Denn bei Erbgutanalysen in der Tumormedizin steht nicht das Erkrankungsrisiko im Vordergrund: "Die Sequenzierung von Tumoren dient dazu, die bestmögliche Therapieoption zu finden", sagt Stefan Fröhling, Direktor des Nationalen Centrums für Tumorerkrankungen (NCT) in Heidelberg. Die Ursachen von Krebs liegen immer im Erbgut verborgen.

Schäden in der DNA oder Fehler beim Ablesen des DNA-Textes führen dazu, dass die Kommunikation zwischen den Zellen nicht mehr korrekt funktioniert. Vor allem die Zellteilung gerät bei Krebs außer Kontrolle: Während gesunde Zellen sich nur auf Befehl teilen und an ihrem Platz bleiben, vermehren sich Krebszellen unkontrolliert und wachsen manchmal sogar in andere Organe ein.

Die genetischen Fehler, die Krebs verursachen, können ererbt sein. Häufiger entstehen sie aber im Lauf des Lebens, entweder zufällig bei fehlerhaften Zellteilungen oder durch erbgutschädigende Faktoren wie UV-Licht oder Zigarettenrauch.

Spezifische Veränderungen

Gegenwärtig sind etwa 200 verschiedene Krebserkrankungen bekannt, die sich in ihrer Biologie und den Behandlungsmöglichkeiten unterscheiden. In den vergangenen Jahren gelang es, für viele dieser Krebsarten sogenannte Treibermutationen zu identifizieren, also Erbgutveränderungen, die spezifisch für Tumoren sind.

Vor allem aber wuchs die Erkenntnis, dass jeder Krebs verschieden ist: So unterscheidet sich nicht nur ein Lungenkrebs mit gut 10.000 Erbgutveränderungen von einem Prostatakrebs mit durchschnittlich 40 Mutationen.

Der Lungenkrebs eines Patienten A weist auch andere Mutationen auf als jener des Patienten B. "Selbst innerhalb eines Patienten kann es zu Unterschieden kommen: Metastasen können sich in genetischen Positionen vom Primärtumor unterscheiden", erklärt der Krebsmediziner Ulrich Lauer von der Uniklinik Tübingen.

Wirkt oder wirkt nicht

Molekular betrachtet, ist jede Krebserkrankung also einmalig und durch die Kombination ihrer Mutationen charakterisiert. Diese Unterschiede im Erbgut können Auswirkungen auf die Behandlung haben: Weist der Lungenkrebs des Patienten A eine Mutation im EGFR-Gen auf, das die Zellteilung beschleunigt, kommt für ihn ein EGFR-Hemmer infrage.

Fehlt die Mutation Patient B, ist die Behandlung mit dem Medikament sinnlos. "Durch die genetische Analyse kann die Therapie also an den individuellen Tumor angepasst werden", sagt Christoph Bock vom CeMM Forschungszentrum für Molekulare Medizin in Wien. "Dann kann auf Therapien verzichtet werden, die nur Nebenwirkungen und keinen medizinischen Nutzen haben. Und umgekehrt sinkt das Risiko, dass eine vielversprechende Therapie nicht ausgewählt wird."

Eine Studie etwa konnte zeigen, dass Patienten mit der höchsten Mutationslast, also der größten Zahl erworbener Mutationen im Tumor, am meisten von einer Therapie mit sogenannten Immun-Checkpoint-Inhibitoren (ICI) profitieren.

Die Medikamente versetzen das Immunsystem wieder in die Lage, Krebszellen zu bekämpfen. "Es ist essenziell, Erbguttests zu entwickeln, die eine Vorhersage erlauben, welche Patienten auf eine solche Therapie ansprechen werden", sagt Fröhling, "denn ICI wirken nur bei einem kleinen Teil der Patienten, sie sind nicht frei von Nebenwirkungen und zudem teuer."

Next Generation Sequencing

In der Praxis entnehmen Ärzte dazu eine Probe aus einem herausoperierten Tumor oder einer Biopsie und extrahieren die DNA. Parallel erfolgt eine Blutentnahme, um die DNA gesunder Zellen zu gewinnen. Mit dem Next Generation Sequencing, einem Verfahren, das die Erbgutforschung revolutioniert hat, entschlüsselt man das Erbgut eines Menschen heute in wenigen Tagen.

Oft wird nicht das gesamte Genom sequenziert, sondern ein sogenanntes Gen-Panel, das oft mehrere Hundert der bislang 700 bekannten krebsassoziierten Gene abdeckt. Die Sequenzdaten aus dem Tumor und dem Blut des Patienten werden dann Position für Position abgeglichen, um jene DNA-Veränderungen herauszufiltern, die nur im Tumor vorkommen.

Maximal präzise

"Am NCT in Heidelberg sequenzieren wir entweder das Exom oder das gesamte Genom", erklärt Fröhling, "In der Regel handelt es sich um Patienten, denen mit herkömmlichen Methoden und Therapien nicht geholfen werden konnte. Eine Komplettsequenzierung ermöglicht eine maximal präzise genetische Charakterisierung eines Tumors und bietet die Chance, doch noch eine Therapieoption zu finden."

"In Österreich wird momentan nur sehr selten eine echte Genom-Sequenzierung durchgeführt", sagt Christoph Bock. Stattdessen werden nur wenige Gene angeschaut, die eine besonders wichtige Rolle für die Krebstherapie haben. Leider gehen dabei wesentliche Informationen verloren.

Denn besonders bei der Behandlung mit modernen Immuntherapien kommt es auf DNA-Mutationen im gesamten Erbgut an." Allerdings ist auch eine vollständige Erbgutanalyse kein Garant für eine wirksame Therapie: In manchen Fällen wird die krebsverursachende Mutation nicht identifiziert, in anderen Fällen existiert keine Behandlung.

Das große Geschäft

Ohnehin ist eine Erbgutanalyse nicht immer notwendig. "Es gibt Krebserkrankungen, deren genetische Ursache heute bekannt ist, dann ist eine Erbgutanalyse gar nicht notwendig", sagt Stefan Wiemann, Leiter der Abteilung Molekulare Genomanalyse am Deutschen Krebsforschungszentrum in Heidelberg – bei bestimmten Formen des Brustkrebses etwa oder der chronisch myeloischen Leukämie (CML).

Vor 30 Jahren noch führte die Krankheit nach wenigen Jahren zum Tod, es sei denn, man fand einen geeigneten Stammzellenspender. Nachdem die molekulare Ursache entdeckt worden war, konnte man eine zielgerichtete Therapie entwickeln. "Das ist ein Extrembeispiel, denn alle CML-Patienten weisen den gleichen Chromosomendefekt auf, aber es macht Hoffnung", so Fröhling.

So wachsen in den USA die Datenbanken, die Erbgutveränderungen mit Krebserkrankungen koppeln, sodass immer mehr Krebsleiden genetisch charakterisiert werden. Allerdings stellt die zunehmende Kommerzialisierung und Privatisierung dieser Daten ein Risiko dar.

Service für Spitäler

"Kommerzielle Firmen und privatwirtschaftliche Diagnostiklabore bieten die Tumor-Sequenzierung als Service für Ärzte und Spitäler an, die diese Expertise selbst nicht haben. Leider sehen es einige Anbieter als Wettbewerbsvorteil an, interne Datenbanken aufzubauen und keinerlei Daten mit akademischen Initiativen zu teilen", erklärt Christoph Bock.

Dadurch komme es zu einer Fragmentierung der Daten, und letztendlich leide die Qualität der Dateninterpretation und folglich die Behandlung. "Notwendig wäre eine öffentliche, nationale Strategie für die personalisierte Medizin und die genetische Analyse in Österreich, wie es sie zum Beispiel in der Schweiz gibt."

Krebsmediziner Fröhling sagt: "Tumorsequenzierungen sind noch eine experimentelle Methode, aber ich würde mir wünschen, dass sie für Patienten mit einem fortgeschrittenen Krebsleiden bald Eingang in die Klinik finden. Die Kosten sind ein begrenzender Faktor, aber es fehlt auch schlicht die Infrastruktur."

Gestiegene Anforderungen

So ist der Zeitaufwand der Sequenzierung zwar stark gesunken, die Anforderungen an die Datenanalyse sind aber stark gestiegen. "Die Datenmengen sind enorm, und nur Experten können sie interpretieren", sagt Wiemann. Für Patienten heißt das momentan, dass eine umfangreiche Erbgutanalyse nur im Rahmen von Forschungsprogrammen durchgeführt wird oder privat bezahlt werden muss.

Lauer ist überzeugt, dass sich das ändern wird: "Die experimentelle Medizin von heute ist die Standardmedizin von morgen." (Juliette Irmer, CURE, 3.6.2019)