"Die Pflege älterer Menschen wird immer komplexer und erfordert heute mehr Kompetenzen als früher", sagt Ursula Frohner.

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STANDARD: In ganz Österreich fehlen Pflegekräfte. Droht ein Pflegenotstand?

Frohner: Wir werden immer älter, und im Gegenzug sinkt die Geburtenrate. Gleichzeitig sind die Menschen länger pflegebedürftig, und die Zahl der pflegenden Angehörigen sinkt. Bereits heute gibt es Organisationen, die an ihre Kapazitätsgrenzen stoßen. Vor allem bei der mobilen Pflege kann man schon von einem Notstand sprechen.

STANDARD: Viele Menschen wollen im Alter in den eigenen vier Wänden bleiben. Ist die 24-Stunden-Pflege die Lösung?

Frohner: Wir sollten klar zwischen Pflege und Betreuung unterscheiden. Die Pflege älterer Menschen wird immer komplexer und erfordert heute mehr Kompetenzen als früher. Darum sind auch viele Angehörige und Betreuerinnen damit überfordert.

STANDARD: Was hat sich verändert?

Frohner: Es ist der medizinische Fortschritt und der Anspruch der Gesellschaft an das Gesundheitssystem. Früher hatten wir keine künstliche Ernährung mit Sonden, keine komplexen Krebstherapien, keine Beatmungsmaschinen. Die Zahl der Medikamente nimmt zu und damit auch die Wechselwirkungen. Die Patienten bleiben viel kürzer im Krankenhaus, immer mehr Eingriffe erfolgen tagesklinisch. Das ist zum Beispiel für Menschen mit Demenzerkrankungen sehr viel besser, stellt die betreuenden Personen aber vor große Aufgaben. Um Menschen daheim pflegerisch gut versorgen zu können, brauchen wir dringend einen Ausbau des bestehenden Angebotes der mobilen Pflege und den entsprechenden gesetzlichen Rahmen.

STANDARD: Welche meinen Sie?

Frohner: Nehmen wir etwa das Thema Schmerz. Die mobile Pflege könnte in Abstimmung mit den behandelnden Ärzten das Schmerzmanagement übernehmen. Dazu braucht sie aber einen gewissen Entscheidungsspielraum, denn es sind die Medikamente anzupassen. Manchmal muss man die Dosis steigern oder ein anderes Schmerzmittel vorschlagen. Das dürfen wir derzeit nicht, obwohl genau das bedarfsorientierte Versorgung wäre. Da bräuchten wir eine gesetzliche Änderung, um mit entsprechender Ausbildung den Bereich der chronisch Kranken besser versorgen zu können. Nach wie vor müssen wir sogar mit jedem Verordnungsschein für eine Inkontinenzeinlage zum Arzt laufen.

STANDARD: Warum ist das so?

Frohner: Laut Gesetz darf die Pflege aktuell Verbandsmaterialien und Inkontinenzprodukte zwar verschreiben, aber die Krankenkassen erkennen die Verordnungsscheine ohne Unterschrift eines Arztes nicht an. Hier haben wir totes Recht und brauchen unbedingt eine Klärung. Das ist auch schon ganz oben auf unserer Wunschliste für die neue Gesundheitskasse.

STANDARD: Oft wird gefordert, dass die Pflege eine wichtigere Rolle in der Primärversorgung spielt. Wollen Sie die Hausärzte ersetzen?

Frohner: Nein, sicher nicht. Aber es gibt viele Aufgaben, die der gehobene Dienst übernehmen könnte. Das sind medizinische Routineaufgaben, die im Krankenhaus bereits ganz selbstverständlich von der Pflege übernommen werden, wie etwa Blutabnehmen, EKG, Blutdruckmessen, Überwachung von Puls und Atmung und Wundmanagement. Wir beraten auch pflegende Angehörige. Unterstützung bei krankheitsbedingten Einschränkungen und die Anwendung von Therapien sind Kernkompetenzen der Pflege, die chronisch Kranke immer brauchen.

STANDARD: In manchen Ordinationen macht die Sprechstundenhilfe das EKG. Das kommt billiger.

Frohner: Die Fachkompetenzen der Pflege sind gesetzlich geregelt. Anhand dieses Leistungsspektrums ist festzulegen, was die Pflege macht. Davon ist ableitbar, was das kostet. Das sind solide Informationen zur Finanzierung von Primärversorgungszentren. Derzeit gibt es für die Pflege keine Verträge mit den Krankenkassen. Die werden wir aber brauchen, wenn die Versorgungsleistungen im Sinne von zu Hause vor stationär umgesetzt werden sollen.

STANDARD: In anderen Ländern dürfen Krankenschwestern sehr viel selbstständiger arbeiten. Was ist da anders?

Frohner: Das ist sicher eine Kulturfrage. In Großbritannien hat die Pflege einen höheren Stellenwert. Da haben wir Nachholbedarf.

STANDARD: Gesundheitsministerin Hartinger-Klein plant eine Pflegeoffensive. Was verbirgt sich hinter dem Masterplan?

Frohner: Die Versorgung chronisch Kranker und pflegebedürftiger Menschen wird zu einer zentralen Aufgabe des 21. Jahrhunderts werden. Das liegt unter anderem daran, dass traditionelle Strukturen, wie etwa die Familie, diese Aufgabe immer weniger übernehmen. Parallel dazu verlagert sich die medizinische Versorgung immer mehr in den ambulanten Bereich. Ein Abschnitt im Masterplan widmet sich der Verschränkung von Pflege und Medizin – und genau darum geht es. Ich hoffe daher auf grundlegende Reformen insbesondere in der Primärversorgung. Diese können jedoch nur dann umgesetzt werden, wenn Gesundheits- und Krankenpflegepersonen auf Augenhöhe mit anderen Gesundheitsberufen im therapeutischen Team verankert sind. Wir haben in den letzten Jahren unsere Hausaufgaben gemacht, indem wir eine Ausbildungsreform, die verpflichtende Registrierung und Leistungskataloge erarbeitet haben.

STANDARD: Hat die Pflege ein Imageproblem?

Frohner: Im Vergleich zu anderen Ländern ist der Stellenwert der Pflege in Österreich nicht sehr hoch. Wenn man für jeden Verband erst um Erlaubnis fragen muss, dann macht das den Beruf nicht sehr attraktiv. Diese Bevormundung nehmen auch die Patienten wahr. Im Spital ist es noch immer so, dass die Pflegepersonen mit dem Vornamen angesprochen werden, während der Arzt der Herr Professor ist. Aber ich glaube, die Generation Y wird das so nicht mehr akzeptieren. Sie werden sich besser abgrenzen.

STANDARD: Sie meinen Essenservieren und Umbetten?

Frohner: Ja, das ist nicht die Aufgabe des gehobenen Dienstes. Die unterschiedlichen Aufgaben sind von den entsprechenden Berufsgruppen zu erledigen.

STANDARD: Gerade wurden die Gehälter neu verhandelt. Finden Sie die Bezahlung in der Pflege fair?

Frohner: Generell sind leistungsbezogene Gehälter, die sich nicht im Gewähren von Zulagen aufdröseln, der Weg zu einer angemessenen Entlohnung, denke ich.

STANDARD: Die Pflege ist nach wie vor ein Beruf mit hohem Frauenanteil. Wird sich das ändern?

Frohner: Frauen wird oft mehr natürliche Begabung für den Beruf zugeschrieben. Das ist aber sicher keine Frage des Geschlechts. Ich hoffe, dass immer mehr Männer den Beruf ergreifen. Die Pflege hat eine hohe Fachkompetenz, und die müssen wir sichtbar machen. Empathie und soziale Kompetenz sind wichtig, aber das ist nicht alles. Wir können mehr. (Andrea Fried, CURE, 19.5.2019)