Susanne Rabady (62) ist Landärztin und seit vielen Jahren in der allgemeinmedizinischen Wissenschaft (Evidenzbasierte Medizin) und Lehre tätig. Sie ist Präsidiumsmitglied der Österreichischen Gesellschaft für Allgemeinmedizin (ÖGAM).

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"Die Hausarztmedizin verlangt Teamarbeit", sagt Susanne Rabady.

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STANDARD: Sie sind seit über 25 Jahren Hausärztin im Waldviertel. Haben Sie Ihre Berufswahl je bereut?

Rabady: Niemals. Ich liebe meinen Beruf, obwohl ich eigentlich Kardiologin werden wollte.

STANDARD: Was hat Ihre Meinung geändert?

Rabady: Sie werden lachen, aber bei der hochspezialisierten Arbeit im Krankenhaus habe ich mich unterfordert gefühlt. Nicht zeitlich, aber ich hatte den Eindruck, dass ich dort nicht alle meine Fähigkeiten einbringen kann. Ich habe gespürt, dass ich mehr für meine Patienten tun könnte.

STANDARD: Was wäre das genau?

Rabady: Der fokussierte Blick auf einzelne Symptome war mir zu wenig. Mir fehlten die Kontinuität und die Breite in der Behandlung. Ich wollte die Patienten in ihrer Ganzheit erfassen und nicht nur ein spezielles Problem in einem konkreten Augenblick. Im Krankenhaus erfasst man die Krankheit, aber nicht den kranken Menschen.

STANDARD: Sie kennen die meisten Ihrer Patienten gut. Hilft das?

Rabady: Ja sehr. Ich kann den Verlauf besser beobachten und dadurch auch Zusammenhänge herstellen. Das erleichtert die Diagnose und die Behandlung. Das ist besonders bei chronischen Erkrankungen wichtig. Viele Familien kenne ich über Generationen hinweg. Dadurch kann ich Veranlagungen, Gewohnheiten und Belastungen besser einschätzen. Ich bekomme einen ganzheitlichen Blick auf meine Patienten. Das macht es auch leichter, sensible Themen wie Depressionen, Alkohol oder Gewalt anzusprechen. Dabei hilft das Vertrauen, das man in langjährigen Beziehungen aufbauen kann.

STANDARD: Trotzdem wollen viele Mediziner nicht Hausarzt werden. Warum?

Rabady: Es liegt an der Ausbildung und an den Rahmenbedingungen, die junge Ärzte abschrecken. Der Beruf wird falsch eingeschätzt und mit berufsfremden Aufgaben belastet. Ein weiterer Grund ist sicherlich auch die mangelnde Wertschätzung für den Beruf. Das kommt weniger von der Bevölkerung als von den eigenen Facharztkollegen und den Entscheidungsträgern. Eine Rolle spielen auch die hohe Arbeitsbelastung und die vergleichsweise geringe Honorierung.

STANDARD: Verdienen Hausärzte zu wenig?

Rabady: Das Einkommen hängt stark davon ab, in welchem Bundesland man ist und wie viele Patienten man hat. In meine Ordination kommen pro Tag 50 bis 70 Patienten. Ohne die Einkünfte aus der Hausapotheke könnte ich davon nicht leben. Aber selbst wenn ich die Anzahl der Patienten beeinflussen könnte, würde ich bei mehr als 100 Kontakten pro Tag nicht mehr die Qualität liefern können, die ich mir und meinen Patienten wünsche.

STANDARD: Je höher das Einkommen, desto geringer also die Qualität?

Rabady: Unser Einkommen hängt von der Zahl der Patientenkontakte ab. Viele Leistungen wie das ärztliche Gespräch, Medikamentenmanagement, die Koordination mit Spitälern und mobilen Diensten, das Führen der Patientenakten, und das Management von chronischen Erkrankungen werden von vielen Kassen kaum oder gar nicht bezahlt. Diese machen aber unsere spezielle Qualität aus. Aber es geht nicht nur ums Geld. Es geht auch darum, dass wir in Österreich einen ungesteuerten Zugang zu allen Stufen der Versorgung haben. Das macht es für uns Hausärzte schwer, den Überblick zu bewahren und die Menschen optimal zu leiten. Manche Patienten kommen bereits mit fünf verschiedenen Meinungen oder gehen nur mehr zum Hausarzt, um sich Medikamente verschreiben zu lassen. Damit können wir unserer Rolle als therapieführende Stelle nur schwer gerecht werden.

STANDARD: Viele Patienten gehen auch lieber ins Spital, weil sie dort alle Leistungen an einem Ort bekommen.

Rabady: Das ist richtig. Eine Reihe von Leistungen, die der Hausarzt erbringen könnte, wird von manchen Krankenkassen nicht bezahlt. Damit werden die Patienten ins Spital gedrängt, etwa zum Ultraschall oder zu Infusionen. In manchen Bundesländern dürfen Hausärzte auch keine Lungen- und Blutuntersuchungen abrechnen.

STANDARD: Gibt es deshalb immer mehr Wahlärzte ohne Kassenvertrag?

Rabady: In der hausärztlichen Versorgung spielen Wahlärzte derzeit noch kaum eine Rolle. Zum Glück funktioniert hier das öffentlich-solidarische System noch gut. Bei den Fachärzten sehe ich mehrere Ursachen. Wahlärzte unterliegen deutlich weniger Restriktionen und Kontrollen als Kassenärzte und können für die gleiche Leistung deutlich höhere Honorare verrechnen. Durch die Rückerstattung der Kassen und Privatversicherungen hat das wirtschaftliche Risiko deutlich abgenommen. Meines Erachtens wird es schwierig werden, ein Auseinanderbrechen des Systems und der Gesellschaft zu verhindern.

STANDARD: Derzeit wird an neuen Modellen für die Primärversorgung gebastelt. Wird das den Beruf attraktiver machen?

Rabady: Ja, wenn nicht nur einige exklusive Pilotprojekte gefördert werden und sich die anderen Hausärzte weiterhin abstrudeln müssen. Da hat die Politik meiner Meinung nach die falschen Botschaften versendet. So unter dem Motto: "Was ihr macht, ist keine Primärversorgung." Faktum ist jedoch, dass die Hausarztmedizin nach Teamarbeit verlangt. Die Betreuung von chronisch Kranken, Disease-Management, Praxisorganisation mit geringen Wartezeiten und manche Leistungen gehen nicht ohne Team. Es ergibt keinen Sinn, dass Ärzte ihre Zeit mit nichtärztlichen Tätigkeiten verbringen. Aber es ist auch nicht einfach, gute Mitarbeiter zu finden. Auch die diplomierte Pflege ist bereits ein Mangelberuf. Und wir brauchen vielfältige, unkomplizierte, attraktive Zusammenarbeitsformen statt massiv komplizierende Vorgaben.

STANDARD: Sie haben federführend an einem Masterplan für die Allgemeinmedizin mitgearbeitet. Was hat Sie motiviert?

Rabady: Wir Hausärzte sitzen in der Mitte des Ameisenhaufens. Wir spüren Systemmängel unmittelbar, leben mit unseren Patienten hautnah mit, ihr Schicksal betrifft uns auch emotional. Als Teil des Gesundheitssystems spüren wir aber auch Verantwortung für das große Ganze.

STANDARD: Was ist also zu tun, um den Beruf attraktiver zu machen?

Rabady: Dafür gibt es keine einfache Lösung, sondern wir brauchen ein ganzes Paket an Maßnahmen. Das beginnt bei der Ausbildung an der Universität. Ein Abschluss als Facharzt für Allgemeinmedizin würde für eine höhere Wertschätzung sorgen. Dann müsste die Gründung einer Kassenpraxis einfacher werden und mehr Möglichkeiten für eine individuelle Lebensgestaltung bringen. Wir haben dazu im letzten Jahr unter breiter Beteiligung von Praktikern und Universitäten einen Masterplan erarbeitet. Nun brauchen wir einen Schulterschluss mit der Politik und den Entscheidungsträgern – im Interesse des gemeinsamen Ziels und unter Zurückreihung von Einzelinteressen. (Andrea Fried, 6.4.2019)